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30 Sprossen zur Seligkeit

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Ist nach mehr als tausend Jahren die orthodoxe Mönchsrepublik auf dem Athos dem Untergang geweiht, wie Pessimisten vermuten? Nach menschlichen Ermessen läßt sich das wohl vom Standpunkt der Statistik behaupten, da die Zahl der Mönche ständig im Abnehmen begriffen ist und der Nachwuchs sich nur äußerst spärlich einstellt. Diese augenscheinlich sterbende und dennoch höchst lebendige und faszinierende Welt ist in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit von einem hervorragenden Kenner des orthodoxen Osten in einer ebenso umfangreichen wie reich illustrierten Geschichte des Lebens, Glaubens und der Kunst dargestellt worden.

Das Neuartige an diesem Buch, das über die bisherige zahlreiche Athos-Literatur hinausweist, besteht darin, daß es nicht nur eine Geschichte und Beschreibung der zwanzig Großklöster, der Skiten (Mönchsdörfer) und der Kellien (der „Zellen“, der Einsiedeleien) bietet, sondern daß auch ein gewaltiges, sachgemäß interpretiertes Bildmaterial erschlossen wird, das bis jetzt weithin unbekannt gewesen ist. Gemeint sind die „Handschriften und Miniaturen“ (besonders beachtenswert die Randminiaturen im Psalter des Klosters Pantokrätoros), die „Evangelistenbilder“ in verschiedenen Kodices, die „Buchmalerei im Evangeliar und

Lektionar“ (Perikopenbuch), wobei neben dem Evangeliar im Kloster Iwiron vor allem das Prunklektio-nar im russischen Kloster Pante-leimonos hervorzuheben i=t, und schließlich die „mythologischen Miniaturen in den Homilien des Gregörios von Nazianz“. Eingehend behandelt der Verfasser die für die orthodoxe Frömmigkeit charakteristischen Ikonen, die flächenhaften Kultbilder von Jesus, der Gottesmutter, den Engeln und Heiligen, die der Orthodoxe als irdische Abbilder des himmlischen Urbildes versteht, durch deren Verehrung er sich mit dem Urbild in innere Verbindung setzt. Während wir im Westen Christus vor allen Dingen als den „Logos“ betrachten („Im Anfang war das Wort.“ Joh. 1/1), so sieht der östliche Mensch in Christus die „Ikone Gottes“, das sichtbar gewordene Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kolosser 1/15). Legt der westliche Christ den Nachdruck auf die Erlösung von der Schuld durch das Kreuzopfer Christi (satisfactio), so verschiebt sich der Schwerpunkt der östlichen Frömmigkeit auf die Erlösung vom Tod und auf die Vergöttlichung des Menschen (deificatio) durch den auferstandenen Christus. Dankbar nimmt man die klare Einführung in die orthodoxe Liturgie, in das Herzstück der östlichen Frömmigkeit, zur Kenntnis, in dem Bewußtsein, daß von hier aus erst Glauben und Kunst des Ostens verständlich werden können.

Der Athos ist der Gottesmutter geweiht und gehört ihr derart ausschließlich, daß seit der Gründung der Mönchsrepublik keine Frau den Athos betreten darf. Jedes Kloster hat sein besonderes von Wundergeschichten und Legenden umwittertes, mit Gold und Edelsteinen sowie zahlreichen Votivtafeln geschmücktes Muttergottesbild, worüber unser Buch ausführlich Aufschluß gibt. Diese große Verehrung entspringt dem überströmenden Dank dafür, daß Maria als Magd des Herrn die bereitwillige irdische Pforte für den Eingang des ewigen Gottessohnes in Raum und Zeit geworden ist. Auf diese Weise hat sie die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes in Christus, und damit die Erlösung des Menschengeschlechtes möglich gemacht.

Auch über die zahlreichen Fresken in den einzelnen Klöstern gibt der Verfasser erschöpfend Auskunft. Ein Fresko verdient besonders erwähnt zu werden: die Himmelsleiter in der Träpeza (Speisesaal) des Klosters Dionysou. An Hand dieses Freskos kann man sich die Frömmigkeit der Athos-Mönche deutlich machen. Den dreißig Lebensjahren Christi entsprechend, bis sich über ihm bei der Taufe der Lichthimmel öffnete, muß der Athos-Mönch auf dreißig Sprossen der Himmelsleiter durch Gebet und Askese emporsteigen, wobei ihm Engel helfend zur Seite stehen, ihn aber auch Teufel versuchen, so daß manche in den Höllenrachen hinabstürzen. Oben empfängt Christus die Frommen mit offenen Armen und schenkt ihnen die höchste Sinnerfüllung ihres mönchischen Daseins: die H e s y c h i a, die beseligende Teilhabe am Urlicht Gottes. Nach einer eingehenden Würdigung des „Malerhandbuches vom Athos“ beschäftigt sich der Verfasser zum Schluß mit einer hochinteressanten

Frage: Wie sind die apokalyptischen Holzschnitte von Cranach und Holbein auf den Athos gekommen, um dort in verschiedenen Klöstern als Vorlage für die Offenbarungs-Zyklen zu dienen? Meines Erachtens ist es dem Verfasser gegenüber den bisherigen Annahmen gelungen, überzeugend nachzuweisen, daß über den evangelischen Pfarrer Honterus in Kronstadt — Siebenbürgen — die mit diesen Bildern versehenen Lutherbibeln an den Hof der moldauischen Fürsten gelangt und von dort auf den Athos gekommen sind. Denn von diesen Fürsten stammten die nötigen Geldmittel, um diese Fresken malen zu lassen. Wer im Zeitalter der Ökumene sich verpflichtet weiß, dem östlichen Christentum verstehend und einfühlend zu begegnen oder sogar die Absicht hat, sich am Athos selbst an Ort und Stelle von der Welt östlichen Glaubens und östlicher Kunst beeindrucken zu lassen, der greife nach diesem Standardwerk, für dessen hohe geistige, künstlerische, phototechnische und bibliographische Qualität dem Verfasser und Verlag ein uneingeschränkter Da: : gebührt.

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