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Bizet in Bern

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Aeußeres Schicksal, Inhalt und musikalische Bedeutung der Oper „Ivan le terrible“, die Bizet 1865 — zehn Jahre vor „Carmen“ — komponierte, sind in gleicher Weise merkwürdig: Bizet schuf das Werk für das Theätre Lyrique in Paris, dessen Direktor, Carvalho, einer seiner wichtigsten Förderer war. Die ersten Bizet-Biographen berichteten dann etwas romanhaft, daß der Komponist die vom Theater schon angenommene Partitur zurückzog und verbrannte, weil er sie im Stil den damals in Paris sich besonderer Beliebtheit erfreuenden Opern Verdis — vor allem dem „Troubadour“ und „Rigoletto“ •— zu ähnlich fand. Erst 1933 stellte der französische Musik-schriftstellcr Jean Chantavoine fest, daß die Partitur (19 Nummern vollständig fertig, 6 nur in der Instrumentationsskizze erhalten) in der Bibliothek des Conservatoires in Paris lagere, und 1938 wurde sie dort von dem deutschen Musikologen Ernst Hartmann zum zweitenmal „entdeckt“ und endlich auch der praktischen Benützung zugeführt. Es stellte sich heraus, daß Bizet das Gerücht von der „Verbrennung“ der Partitur selbst ausgestreut hatte; in Wirklichkeit hatte er das Werk zurückgezogen und versteckt, weil er verhindern wollte, daß es den Gläubigern des inzwischen in materielle Schwierigkeiten geratenen Theätre Lyrique ausgeliefert werde'.

Der von F. H. Leroy und H. Trianon hergestellte Text ging weniger darauf aus, eine großangelegte Charakterstudie des berüchtigten Zaren zu geben — wie sie Bizet zur Zeit der „Carmen“ wahrscheinlich als großartiges Gegenstück zu „Boris Godunow“ mit Begeisterung gestaltet hätte —. als eine Reihe historischer Bilder, die Ivan in seiner Liebesaffäre mit Maria, der Tochter des Tscherkessenfürsten Temruk, und als Ziel einer Verschwörung des Bojaren Yorlok zeigen. Volksszenen, zarte und volkstümliche Lieder, Ensembles der Verschwörer und wilde Ausbrüche Ivans bilden die Hauptpunkte der locker geführten Handlung, deren musikalische Ausführung mehr zu Verdi und Meyerbeer neigt als zu der subtilen Musikpsychologie, die neben dem spanischen Lokalkolorit den Hauptreiz von „Carmen“ bildet. Vom absolut musikalischen Standpunkt aus enthält aber „Iwan IV.“ — dies der Titel der von Fritz Schröder besorgten deutschen Fassung — so viel bedeutende und originelle Einfälle, daß die Aufnahme der Oper ins allgemeine Repertoire vollkommen gerechtfertigt erscheint. Mit den von dem französischen Komponisten Henri Busser vorgenommenen Instrumentations-Ergänzungen wurde das Werk am 28. November 1951 in Bordeaux uraufgeführt; im Mai 1952 brachte dann Köln die deutsche Erstaufführung.

Die vom Stadttheater in Bern veranstaltete Schweizer Premiere bedeutete in gewissem Sinne sogar eine „zweite Uraufführung“, da der Regisseur Stephan Beinl die Handlung sehr zum Vorteil des Ganzen wesentlich gestrafft hat (durch Zusammenziehung des 5. und 6. Bildes) und auch in seiner Inszenierung der problematischen Gestalt des Titelhelden durch viele feine psychologische Züge erhöhte Bedeutsamkeit gegeben hatte. In der Gestaltung Beinls war Iwan wirklich ununterbrochen das Zentrum der Handlung, und diese Allgegenwart der Hauptgestalt gab auch all den bunten Geschehnissen, die von dem idyllischen Leben in der Bergheimat der Tscherkessen bis zu den prunkvollen Feiern im Moskauer Kreml reichen, neues Relief.

Obwohl das Werk an Geschlossenheit und Intensität natürlich nicht mit „Carmen“ iu vergleichen ist, so bewies doch der große Erfolg der Berner Premiere deutlich, daß auch das breitere Publikum das lebensvolle, mit den Mitteln der „großen Oper“ eindringlich geformte Werk Bizets gebührend zu schätzen weiß. Der Wagemut des Berner Stadttheaters, das in der Spielplangestaltung schon seit einigen Jahren ganz bewußt die ausgetretenen Wege der Repertoirebildung verläßt und systematisch das wertvolle Neue heranzieht, hat also auch mit dieser gelungenen Bizet-Premiere einen Beweis seiner besonderen Leistungsfähigkeit erbracht.

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