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Der Blick in die Tiefe

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FLUGBILD EUROPAS. Von Emil Egli. Mit einer Einführung von Salvador de Madariaga. Herausgegeben von Hans Richard Müller. Artemis-Verlag, Zürich. 225 Seiten. Preis 39 sfr.

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FLUGBILD EUROPAS. Von Emil Egli. Mit einer Einführung von Salvador de Madariaga. Herausgegeben von Hans Richard Müller. Artemis-Verlag, Zürich. 225 Seiten. Preis 39 sfr.

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Wer auch nur einmal in 3000 Meter Höhe ein paar Stunden geflogen ist, der wird die Bilder, die er da sah, nicht mehr vergessen können. Einzelheiten, Zufälligkeiten, kleine Schönheitsfehler verschwinden, und das Wesentliche wird sichtbar: Natur und Kultur in ihrer wechselseitigen Durchdringung, die gestaltenden Kräfte, die das Bild einer Landschaft prägen. Die Kamera nun kann diese Bilder für immer festhalten, und bereits vor zehn Jahren hat H. R. Müller die Idee gehabt, ein Buch mit dem Titel „Flugbild der Schweiz“ herauszugeben. Für den vorliegenden Bildband wurde eine Reihe zum großen Teil unbekannter, aber ausgezeichneter Flugphotographen gewonnen, aus deren Aufnahmen man die besten ausgewählt hat. Dabei galt es, vom Kuriosen und Verblüffenden, das besonders bei der Flugaufnahme so sehr verlockt, vorzustoßen zur Landschaftsinterpretation, zum Gesamtbild. Gleichzeitig wollte man das Didaktische vermeiden. So entstand ein kulturgeographischer Teppich mit Bildern von hohem ornamentalem Rei.. — Von „Aerofilms Ltd., London (mit 24 Aufnahmen) bis zum Stato Maggiore Aeronautica Italiana (mit 8 Aufnahmen) haben die verschiedensten öffentlichen und privaten Institutionen zu der Sammlung von insgesamt 184 Photos beigetragen, unter denen sich auch elf Farbtafeln befinden, die in vorbildlicher Qualität von der Tiefdruckanstalt Imago, Zürich, hergestellt wurden.

Wertet man zunächst rein ästhetisch, so erweisen sich das Flachland und die Küstenlandschaften als photogener denn das Hochgebirge, und unter den Kulturlandschaften wieder nimmt Frankreich die erste Stelle ein. Die Reisfelder der Camargue, Flamingos über dem Etang de Vaccares, Dorf und Halbinsel Tahnont mit der romanischen Kirche von Sainte Radegonde, Saint-Tropez, Cannes, die Salzgärten bei Baz und bei La Baule an der Loiremündung, die Austernbank bei Avers an der Gironde, das Farbbild vom Schloß Chenonceaux (Indre- et-Loire) — zu diesen bezaubernden Landschaften blättert man immer wieder zurück. Aber auch die Weite und Schwermut skandinavischer Seen und Küsten hat ihren Reiz, die großartige Häßlichkeit mancher westeuropäischer Städtevororte und Industriezentren, die planlos oder planvoll angelegten Großstädte, um einen Kern zentrierte deutsche Marktflecken, die sieh, von oben gesehen, seit dem Mittelalter kaum verändert zu haben scheinen, kühne Brückenschläge und ingeniös geführte Autobahnen (Straßenkreuzung bei Irschenberg an der Autobahn nach Salzburg), Docks und Rangierbahnhöfe, termitenärtige Arbeiterwohnsiedlungen he: London und unheimliche Autoansammlungen vor der großen Sportstadien, daneben eine Versammlung der Landgemeinde von Appenzell … Das alles ist Europa; in seiner Einheit und in seiner Vielfalt, mit seinem Individualismus und seinem Gefühl für Freiheit, Qualität und Form, mit seinem Utilitarismus, über dem aber immer wieder der glorreiche Stern der Zwecklosigkeit erglänzt, mit seinem Maßhalten und mit seiner Kultur, die — nach der Definition Madariagas — aus der Vereinigung des sokratischen mit dem christlichen Geist hervorgegangen ist; der einzige Kontinent ohne Wüsten, der seine äußere Kleinheit durch inneren Ueberdruck kompensiert, wie Emil Eggli im Vorwort ausführt. (Er hat auch die sehr instruktiven Bildlegenden geschrieben, wäh rend Peter Mayer die kunsthistorischen Aufnahmen und die Städtebilder kommentierte.) So dringt der Blick von oben zugleich in die Tiefe kulturhistorischer Entwicklung.

Oesterreich ist in diesem schönen Bildband ein wenig stiefmütterlich behandelt. Das mag daran liegen, daß der größte Teil der Aufnahmen zu einem Zeitpunkt gemacht wurde, als das Photographieren aus der Luft infolge der vierfachen Besetzung des Landes noch auf Schwierigkeiten stieß. Nur ganz wenige Bilder zeigen uns Osteuropa, uns so nah und doch so fern, aus bekannten Gründen. Größe und Schönheit Europas repräsentieren diese Bilder. An sein Elend erinnern uns jene, die wir in der Erinnerung tragen, aber hier, in diesem Buch, nicht wiederfinden.

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