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Die erschrockenen Augen
Die Galerie Würthle (Wien I, Weihburggasse 9) zeigt eine Ausstellung des graphischen Werks Max Beckmanns. Vier Jahre nach seinem Tode hat Wien hier das erstemal Gelegenheit, die wesentlichen Radierungen, Zeichnungen, Lithographien und Holzschnitte des Künstlers kennenzulernen. Der Leitung der Galerie gebührt deshalb für das Zustandekommen der Ausstellung besonderer Dank.
Max Beckmanns Kunst stellt sich gegen den Strom. Im Erlebnis des ersten Weltkrieges empfing Beckmann die Berufung zu einer Künstlerschaft, die sich zu schonungsloser Aussage verpflichtet weiß, um durch sie die Menschen aufzurütteln und zur Besinnung zu bringen. Eine solche Kunst ist niemals nur Ausdruck ihrer Zeit; indem sie ihre Wurzeln bloßlegt, unternimmt sie vielmehr den bewußten Versuch, auf ihr Antlitz einzuwirken: sie stellt sich gegen den Strom der Zeit, um die Fluten zu teilen.
Die meisten Graphiken sind dem Expressionismus entwachsen, als dessen Spätform man sie bezeichnen könnte. Sie stellen geklärten und geläuterten Expressionismus dar, der von allem Nebensächlichen befreit ist, gereinigt auch vom Schreierischen, der nur noch Ausdruck ist und dadurch spricht, ohne zu schreien und ohn« zu reden. Aus dem Dunkel des Daseins, aus der Tiefe des Lebens wachsen die Figuren Beckmanns, erheben sich ihre Köpfe: in ihm verwurzelt, aus ihm gewachsen, kaum sich darüber erhebend, aber im Innersten von ihm unbefleckt. Jeder der Köpfe wird ganz von den Augen beherrscht, in denen die Leiderfahrung einer Generation, ein tragisches Wissen um die Verhaftetheit des Lebens und um das immer wieder geschlagene und geschundene Menschsein enthalten ist. Man müßte, wenn das möglich wäre, eigentlich alle Bilder dieser Kollektion nennen, die in der Hauptsache Radierungen aus den Jahren 1910 bis 1928 und einen nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Lithozyklus „Tag und Traum” umfaßt: „Schlangendame" und „Seiltänzer”, „Abend" und „Morgen", „Variete" und „Siesta", „In der Straßenbahn", „Musterung" und „Schießbude"… Immer wieder arbeitet Beckmann klar und unübersehbar gedankliche Gegensätze heraus und stellt sie hart nebeneinander, wie etwa Gewehr und Mädchen in der Schießbude. Und immer steht der Mensch zwischen diesen Gegensätzen, mitten darin, der Mensch, einsam und erschrocken, nackt und Verloren im Vorgang der Musterung, bei dem seine Fleischlichkeit gewogen und vielleicht auch zu leicht befunden wird. Diese Gegensätze kommen in allen Bildern durch die Präzision der Formsprache, durch die kläre Begrenzung der Formen, die starke optische Spannungen entstehen lassen, und die vibrierende Linienführung zu beklemmender und überzeugender Wirkung.
In der Neuen Galerie (Wien I, Grünangergasse 1) ist eine Ausstellung „Primitive Malerei aus Haiti" zu sehen. Vor etwa zehn Jahren entdeckte ein kunstbegeisterter amerikanischer Lehrer die Begabung einiger „Sonntagsmaler" der Negerrepublik Haiti, in deren Hauptstadt Port-au-Prince er bald ein „Centre d’Art"ins Leben rief, das die eingeborenen Künstlet in jeder Hinsicht fördern sollte. Seither wandert eine Ausstellung ihrer ursprünglichen und ungekünstelten Arbeiten um die Welt und ist nun auch nach Wien gekommen. Die Bilder zeigen eine farbenfrohe Insellandschaft mit Mangobäumen, Kokospalmen und weißen Hafengebäuden und stellen Szenen aus dem Leben der Eingeborenen dar: Kirchgang und unheimliche Zeremonien aus dem Voudou-Kult, der auch heute noch nicht ausgestorben ist, Radatrommeln und Opferfeuer, Mangoernte und Zubereitung der Cassavawurzeln, Fischmarkt und Reisgewinnung. Unbedenklich werden in den ’ Bildern Stile gemischt, soweit es sich nicht überhaupt nur um ungelenkes Festhalten von Eindrücken handelt. In einem Bild überwuchern bizarre Formen, ein anderes ist kindlich-naiv, ein drittes scheint zwischen Gauguin und Rousseau zu liegen, ohne freilich im entferntesten ihre Intensität zu erreichen. Wir finden hier Kunst im Stadium des Ueberganges von anonymer Uebung zu individueller Gestaltung.
In einem Nebenraum der Neuen Galerie stellt Anton S e b e 1 a aus: Landschaften und Porträts, darunter eine sauber gearbeitete Oellandschaft (12) und eine ansprechende Pinselzeichnung (1).
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