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Liturgischer Aufbruch

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Matrej a. Br., Anfang September

Zum ersten Male in der Geschichte der neueren Kirchenmusik haben hundert ihrer Werkleute über alle Vielfalt der Strömungen und Stilarten hinaus ihre unerschütterliche Einheit manifestiert; nicht auf einer Tagung mit Konferenzen und gutgemeinten Ratschlägen, auch nicht auf einem Kongreß mit demonstrativem Schaugepräge, sondern in einer Werkwoche ohne Publikum und Proklamationen, einem richtigen Herrgottsingen. Es wurde nicht behauptet, sondern ausgeführt, nicht theoretisiert, sondern praktiziert. Aus in- und ausländischen Diözesen kamen sie in den letzten, sonnegesegneten Augusttagen im St.-Michaels-Haus oberhalb Matrei zusammen: Dirigenten und Sänger, geistlichen und weltlichen Standes und beiderlei Geschlechts, begingen die gottesdienstliche Feier in täglich neuer Gestaltung als Chormesse, Betsingmesse, Choralamt und Hochamt mit polyphonem Gesang, ebenso die Komplet. Dazwischen hatten Berichte, Vorträge, Referate, Blitzkurse und kleine Proben ihren Platz und nicht zuletzt das persönliche Kennenlernen und Näherkommen. Alle Leistung erfloß aus der aktiven Teilnahme aller am liturgischen Geschehen, der einzigen Quelle einer Kirchenmusik, die ihren Aufgaben gerecht werden will und kann. Dazu war die Ausschaltung der verwirrenden Momente, die Absage an im Laufe der Jahrhunderte angewachsenes Beiwerk geboten: konzertante Haltung, profane Melis- men und romantischer Subjektivismus. Ohne jeden instrumentalen Ton, selbst den der Orgel, erklang die Musica sacra in ihrer seit dem frühen Mittelalter, nicht mehr gehörten Ursendung als betender Gemeinschaftsgesang. So manche der Anwesenden erlebten hier die Verwirklichung eines unendlich lange gehegten Traumes, andere vielleicht erstmalig die Herrlichkeit der gesungenen Liturgie, und selbst die ältesten Teilnehmer bekannten freimütig, ein kirchenmusikalisches Erlebnis solcher Tiefe und Transzendenz nicht geahQt Zu haben. Vielleicht auch ein gleiches sakralmusikalischer Gemeinschaft nicht, da der Pfarrer neben dem Singbuben, der Domkapellmeister neben dem Dorfsänger stand und keiner sich etwas anderes fühlte als ein von der Größe des Geschehens erschütterter, von der Freude, mitgestalten zu dürfen, erhellter Mensch. In jedem Herzen stand die Erkenntnis der Wende auf. Vorbei die eingefrorene Schablone, die gedankenlose musikalische Funktionsmaschine, der geistlose Professionalismus und der dilettantische Werkelmann! Ein neues Lied hebt an: „Lasset uns wandeln in Christus und also singen, daß wir in Sehnsucht erglühen nach der ewigen Stadt!“ hieß der augustinische, von Oswald Jaeggi, dem Stiftskapellmeister von Einsiedeln, für die Werkwoche komponierte und den Kirchensängern Österreichs gewidmete Wahlspruch. In diesem Geiste wurde denn auch gesungen. Es ist erstaunlich, wie leicht der wahre Kirchenmusiker die wahre Kirchenmusik erlernt. Die hundert aus ihren verstreuten Posten einander großteils erstmalig begegnenden Werkleute sangen, ein bunter Chor, gregorianische Weisen sowie alte und neue Polyphonic mit einer Vollkommenheit, die jedem Domchor zur Ehre gereichte.

Der in dieser Gemeinschaft vollzogene liturgische Aufbruch, die Reinigung gottesdienstlicher Musik von allen außerkirchlichen Nebengeräuschen und die Beweisführung fast sakramentaler Weihe unverfälschter, zur Gänze dem heiligen Vorgang am Altäre entspringender und ihm allein dienender Musik ist, so staunend die Teilnehmer es erlebten, keine Sensation, nicht einmal eine

Überraschung, oder doch nur für wenige, innerlich noch Fernstehende gewesen. Er ist vielmehr die Verwirklichung tausender Herzenswünsche nach einer Entsühnung und Neusegnung der tausendmal entweihten und dauernd profanierten Kirchenmusik, an der eine Teilnahme des Volkes erst dann fruchtbar werden kann, wenn die Kirchenchöre ihre kirchliche Aufgabe ebenso als ihre chorische erfüllen. Was auf dem Lande weit vollkommener geschieht als in den Städten,

weshalb die „Erneuerung aus dem Geiste" (Referat Prof. Krieg, Wien) in letzteren so bedenklich auf sich warten läßt und ihre Messenkonzerte so tief unter der dörflichen Missa de angelis stehen. Für „Neue Wege der Kirchenmusik" (Referat P. Oswald Jaeggi, Schweiz) aber werden auch die Verleger Verständnis aufbringen müssen, um mit ihren Ladenhütern aus den neunziger Jahren nicht länger ihre eigene Rückständigkeit in. die Auslage zu stellen. Ein neues Lied hebt an, feie neue Jugend singt es. Und es wird sich von Mund zu Mund fortpflanzen, wenn ihm Stich und Druck verweigert wird.

Dies mag als „Erneuerung von Grund auf“ der bleibende Gewinn der Brennerwoche sein: die Wahrnehmung der zwölften Stunde zur Rettung der Kirchenmusik aus ihrem immer tieferen Absinken ins Kirchenferne, und der Beweis von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Dieser ersten Manifestation in Österreich werden andere, vielleicht größere, folgen. Das Verdienst der Brennerwoche bleibt bestehen. Ihren Vollbringern dankt die Kirchenmusik, nicht nur der Heimat; der großzügigen Anregung des hoč h w. B i s c h o f s von Innsbruck,

der Haus und Mittel zur Verfügung stellte; deni geistlichen Gestalter P. A d e 1- bert Röder (Bregenz); dem künstlerischen, Prof. Paul Neumann (Innsbruck). Ihre Namen und ihre Tat sind der Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Kirchenmusik, darin nach P. Adelberts Schlußworten die Kirchenmusiker wieder als singende Apostel das Salz der Erde sind — und nicht der Zucker.

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