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Theater- und Musikleben in Westdeutschland

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Ob München, Stuttgart oder Frankfurt: in den Straßen der westdeutschen Großstädte herrscht ein geschäftiges Treiben, das beängstigend ist. überall der gleiche erste Eindruck: Menschen in fieberhafter Eile, irgendeinem fernen Ziel entgegen. Die Straßen sind von den Trümmern blank geputzt, und nun ragen Gerüste gen Himmel. Die Städte ändern ihr Antlitz von Tag zu Tag.

Die Gegensätze sind groß. Und überall wachen Regierungen der Länder, die viel mehr Eigenleben haben als früher. Das ruft eine Konkurrenz auf den Plan, die nirgendwo so positiv sich auswirken kann wie im Kulturleben. Jedes Land hat sein „Staatstheater“, Bayern, Württemberg und noch auch Hessen, München seine Staatsoper (Prinzregententheater), seine Staatsoperette am Gärtnertor und sein Staatsschauspiel am Brunnenhof. Während das Nationaltheater, dessen schöne Fassade nahezu ganz erhalten geblieben ist, noch auf Jahre hinaus nicht mehr der Oper ein Heim in der inneren Stadt bieten kann, wird das Schauspiel bald aus seiner Interimsunterkunft entlassen werden können. Das schöne alte Residenztheater, einst ein Rokokoschmuckkasten und Stätte berühmter Mozart-Festspiele, wird es aufnehmen. Äußerlich unverändert, ist es im Innern ein moderner Theaterbau aus Eisen und Beton geworden mit einem amphi-theatralisch angelegten Rang. Aus 650 wurden 1100 Sitze. Die Eröffnung ist für Weihnachten 1950 vorgesehen. Das neue Residenztheater ist aber nur die erste Etappe auf dem Weg zu einem neuen Kulturmittelpunkt München. Er sieht noch einen neuen Konzertsaal mit 1400 Plätzen vor, deremit Hilfe des Rundfunks gebaut wird, und die Ruine des früheren Armeemuseums, die der bayrische Rundfunk für sich ausbauen wird. Was mit den Trümmern des alten Kunstvereinsgebäudes geschehen soll, ist noch nicht entschieden. Das Problem, ein junges Opernpublikum heranzubilden, liegt in München besonders schwierig. Das Prinzregententheater ist ein „Theater ohne Galerie“. Und welcher Jugendliche kann sich die hohen Eintrittspreise von 4 bis 10 oder gar 12 D-Mark leisten? Es gibt jedoch Schüleraufführungen. Auch werden zwei- bis dreimal in der Woche je rund 200 Karten bedeutend ermäßigt abgegeben und bis zum Abend nicht verkaufte Sitze an Studenten und Schüler für 2 D-Mark verkauft. Es gibt keine leere Oper in München. Künstlerisch ist das Niveau bereits wieder sehr hoch. Vor allem im Geist der Aufführung. Während München sozusagen positiv an der neuen Gründerzeit, die über Westdeutschland hinweht, „leidet“ — man schießt in Gründerzeiten leicht übers Ziel — hat sich Stuttgarts und Frankfurts Kunstleben noch viel mit Voraussetzungen herumzuschlagen. In Stuttgart hat man jetzt das in Privatbesitz befindliche unzerstörte „Schauspielhaus“ für das Staatsschauspiel gemietet und die Theaterkrise soll nun immerhin den Tiefpunkt erreicht haben. Besonders schwierig ist die Lage der Maler und Bildhauer, von denen es allein in Stuttgart über 300 gibt. Und der Württembergische Kunstverein, früher eine in jeder Beziehung äußerst aktive Vereinigung, bedarf dringend städtischer Subvention. Oper und Konzertleben sind in einer Hand. Ähnlich ist die Situation in Frankfurt, wo ebenfalls, hier nicht gerade zum Vorteil der weit volkreicheren und als Verwaltungszentrum für Kunst aufnahmefähigeren Stadt, in Konzert und Oper das „EinMann-System“ herrscht. Leider hat das einst großartige Museumsorchester seinen Glanz verloren, während das Rundfunkorchester Frankfurts dank größerer Geldmittel auf hohem Niveau steht. Der Wiederaufbau des zerstörten Frankfurter Schauspielhauses soll nun auch in Angriff genommen werden. Nach dem ersten Bau-absdinitt (Kostenaufwand 3,3 Millionen) soll das Haus mit 1450 Sitzen anfangs 1951 jedenfalls spielbereit sein.

Im Gegensatz zu Bayern, wo die Tendenz besteht, auch die kleineren der im ganzen 44 Spielkörper mit einer Zwölf-Millionen-Subvention jährlich (60 Prozent Staat, 40 Prozent Städte) über die Krise zu bringen, ist das Ziel des kleineren Hessen, nur die wirklich lebensfähigen Theater zu erhalten. Es gibt drei Staatstheater: Kassel, Wiesbaden mit zwei Häusern und Darmstadt. Die Oper Wiesbaden bringt die von Staat und Stadt geleistete Subvention im Lauf der Spielzeit fast ganz wieder herein: ein Einzelfall weithin. Das Schauspiel arbeitet jedoch sehr unwirtschaftlich. Die Not der Zeit zwingt in Hessen dazu, die für kulturelle Belange bisher aufgewendete Summe von 6 Millionen auf die Hälfte zu reduzieren, wobei in Zukunft der Staat 52 Prozent, die Städte 48 Prozent zu übernehmen haben.

Interessant ist die kulturelle Entwicklung im nahezu völlig zerstörten Mainz, das gerade jetzt durch ein Angebot des Oberkommissars Francois-Poncet —Mainz liegt bereits in der französischen Zone — die Möglichkeit erhält, das Stadttheater wieder aufzubauen. Eine großartige Entwicklung hat die nach dem Kriege gegründete Universität genommen, die heute mit 6500 Hörern Frankfurt (3000) weit überflügelt hat. Die Musik ist theoretisch und praktisch stark vertreten. Die Universität ist in einer früheren Flak-Kaserne untergebracht — „Kaserne des Geistes“ ist nun ihr Ehrenname —, die Studenten wohnen in ausgebauten Dachbodenkammern der Kaserne und in den Vororten weit um Mainz herum. Es gibt zur Zeit noch keine Oper, das Schauspiel ist im Rathaussaal untergebracht und das Konservatorium über die ganze Stadt verstreut: man unterrichtet meist zu Hause.

Gerüste ragen gen Himmel — auch im Kulturleben Deutschlands. Mit den überall feststellbaren Bemühungen, die örtlichen Kulturverhältnisse in Ordnung zu bringen, steht vieles, was man aus der Entfernung nicht verstehen kann, doch im Zusammenhang. Zum Beispiel die zahlreichen Gastspieltourneen, die seit der Währungsreform Westdeutschland überschwemmen und zweifellos aus der noch ungeklärten, ungefestigten Situation Nutzen ziehen, freilich auch kulturellen Nutzen bringen. Nicht immer sieht man jedoch eine kulturelle Notwendigkeit so schnell ein wie im Falle der „Kölner Bühne“, die als einziges „christliches Beruf stheater Deutschlands“ reist und zweifellos niemandem unnötige Konkurrenz macht. Außerdem hängen die Tourneen, abgesehen vom Bedürfnis des künstlerischen Vergleichs (auch mit ausländischen Vereinigungen), mit der Tatsache zusammen, daß oft kleine Städte zur neuen Heimat künstlerischer Verbände geworden sind, die sie auf die Dauer nicht allein tragen können. So sind zum Beispiel die Bamberger Symphoniker, die aus dem früheren Prager Philharmonischen Orchester hervorgingen, geradezu auf Gastspiele angewiesen. Andererseits wieder wird dadurch das kulturelle Bewußtsein mittlerer Städte gestärkt, wie überhaupt auch innerhalb der Länder eine starke Eigenständigkeit gegenüber dem jeweiligen Zentrum betont wird. Franken zum Beispiel will sich von München nicht bevormunden lassen, betont seine Eigenart, was auch in der kürzlich, also mitten in der Zeit der Geldknappheit, gegründeten ausgezeichneten Monatszeitschrift .Frankenspiegel“ zum Ausdruck kommt.

Es wird noch Jahre und Jahrzehnte dauern, bis alle diese Sonderwünsche, die freilich auch manchmal nicht der Sonderlichkeit entbehren, mit den allgemeinen Interessen übereinstimmen. Deutschland ist noch längst nicht gesundet, aber es hat den Vorteil einer neuen, tatkräftigen Jugend für sich.

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