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Verheißung und Aufbruch

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Was immer lebt, dem ist Altern, Erstarrung und schließlich Sterben gewiß; aber was immer lebt, das wächst und wandelt sich, das pflanzt sich weiter, das erneuert sich auch gleichzeitig in jedem Augenblick seines Daseins. So sind nicht nur ständiger Verfall, um sich greifende Erstarrung, ja unaufhörliches Sterben, sondern ebenso fortwährende Zeugung,

stete Wiedergeburt und ewige Erneuerung Eigenschaften alles Lebendigen.

Solange Kultur an Menschen gebunden ist — insoweit Volkskultur noch von einem Volkstum getragen wird (und nicht etwa ein vom Mutterboden gelöstes Homunculusdasein fristet) — in soweit also und nur insoweit gilt das Gesetz des Lebens auch für alle Erscheinungen der Volkskultur, mithin auch für die Tracht.

Die Veränderung der Form, die bis zu ihrer völligen Umwandlung führen kann, ist nicht Zeichen der Degeneration des Volkstums, sondern, im Gegenteil, Zeichen seiner Kraft. So gesehen, ist ein starrer, unveränderlicher Traditionalis mus der Volkskunde immer verdächtig Ist hier das Festhalten an einer gepräg ten Form Kraft der Haltung — oder An passungsschwäche, Mangel an Phantasie, hohle Fassade: das ist die Frage, vor die sich die moderne Volkskunde in solchen Fällen mit Recht gestellt sieht.

Die wahre und wirksame Trachtenpflege war daher schon immer eine Trachtenerneuerung im Sinne der Anpassung an die Erfordernisse von Zeit und Umwelt. Die „Hohenlohe-Joppe“, der „Lamberg-Hut", das „Herzog-Max-Hütl", schließlich die gesamte bayrisch-steirische Lodentracht — es sind dies nur bekannte Beispiele — wurden in ihrem letzten Schliff und „Genre“ von sehr bekannten Malern entworfen —, wenn man die gewisse Anpassung an den Zeitgeschmack, die „Stilisierung", Entwurf nennen will. Denn die Grundlage dieser glücklichen und tausendfach bewährten Entwürfe war die gewordene und gewachsene Volkstracht, die irgendwann die Fühlung mit der Zeit verloren hatte und „von selbst' eben nicht mehr die Kraft fand, sich anzupassen.

Wenn dann einmal die Tracht wieder „eingerenkt" war, dann besorgten schon clie ständige Erneuerung die Schneider und die Kunden, ein Vorgang, der in jedem Gebiet lebendiger Tracht wohl zu bemerken ist. Diese fortlaufende Erneuerung ist kein Verändern von Grund auf, sondern ein Fortdenken in der Eigengesetzlichkeit, die jeder Tracht von Haus aus innewohnt.

Wie aber sollte der Schneider, wie der „Kunde“ die Tracht erneuern, wenn wohl das Bedürfnis nach Tracht vorhanden, aber die Grundlagen dazu, die Tracht selbst, erstarrt, abgestorben und für die Gegenwart unbrauchbar geworden war?

In dieser Lage also sind die Volkskundler auf den Plan getreten und haben damit eine Pflicht übernommen, die auch sonst für jede Wissenschaft eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich die Nutzung der Forschungsergebnisse für Gemeinschaft und Leben.

Was man von Gevatter Schneider nicht verlangen kann, vermag die Volkskundezu leisten: bei dem abgerissenen Faden der Trachtenentwicklung wieder anzuknüpfen und auf Grund von Analogieschlüssen und einer genauen Kenntnis der psychologischen Voraussetzungen die verlorengegangene Tracht gleichsam neu erstehen zu lassen und auf den heutigen Stand zu bringen. Dies ist neben dem wissenschaftlichen auch ein eminent künstlerischer Vorgang, denn er bedeutet Formung und Gestaltung. Vom künstlerischen Rang des Erneuerers wird daher die Schönheit, von der wissenschaftlichen Gründlichkeit die Richtigkeit einer solcherart erneuerten Tracht abhängen.

Wo ist, zunächst in Mitteleuropa, Trachtenerneuerung nötig? überall da, wo es keine lebende Tracht mehr gibt und wo der brennende Wunsch nach Tracht vorhanden ist. Dies ist vor allem im Umkreis der lebenden Trachten der Fall, denn hier ist der Ansporn durch das sichtbare Beispiel besonders groß. Die Gebiete lebender Tracht sind freilich rasch aufgezählt: in Österreich und Bayern der Raum der nördlichen Kalkalpen (graugrüne Lodentracht), der Bregehzer- wald, Sarntal und Burggrafenamt ln Südtirol und einige Dörfer des Burgenlandes an der äußersten Ostgrenze des deutschen Sprachraumes. In der Schweiz gibt es wohl da und dort noch traditionelle Festtrachten, aber kaum mehr (wenn nicht schon wiederl) eine lebendige, von allen Volksschichten getragene Tracht. Die Trachteninsel Deutschlands, der; SchwarzWald, einige fränkische, hessische, wendische und westfälische Bezirke oder Gemeinden vermögen leider kaum mehr eine Anziehungskraft auszuüben, da sie sich infolge der Überalterung (nidit vollzogener Anpassung!) der Kleidungsform seit Jahrzehnten im Rückzugsgefecht einer fast hoffnungslosen Verteidigung befinden. Eine rechtzeitige Erneuerung dieser Trachten, wie es etwa Hermann Pohl für den Ochsenfurter Gau vorschlägt („Vom Leben und Wesen der Frauentracht des Ochsenfurter Gaues“, „Schönere Heimat", 40. Jg., Heft 2) könnte noch manches retten.

Zur Zeit ist mit sichtbarem Erfolg die Trachtenerneuerung in den Alpenländern Schweiz, Tirol, Salzburg, Kärnten und Oberbayern wirksam. Schon schließen sich die außeralpinen Landschaften Oberund Niederösterreichs, des Burgenlandes und Niederbayerns an, ja, erfreulicherweise greift die Trachtenerneuerung auch schon ins Fränkische über, wie uns eine Vorführung beim Kiliansfest in Würz- burg bewies.

Die Mittel der Trachtenerneuerung sind sö modern wie die Gegenwartsvolkskunde, die das psychologische Moment methodisch in den Vordergrund treten läßt. Der Weg ins Volk führt heute Über den Laufsteg der Moderevuen, die auf den schwankenden Hintergrund der flüchtigen Mode projiziert, die Tracht sich wirkungsvoll abheben lassen. Der Weg zu den verhärteteren Männern führt dagegen am aussichtsreichsten über die Gemeinschaft. Gerne betonen Männer Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit durch Tracht und Standeskleid, für sie ist Tracht eher Bekenntnis als etwa sublimierte Gefallsucht.

Es ist geradezu prächtig, was sich mit solchem Unterfangen alles erreichen läßt! Schließlich kommt — und das ist ja am Ende Sinn und Zweck der ganzen „Trach- tenerüeuerung“ — zur Tracht das Bedürfnis nach einer aus demselben Geist gestalteten Wohnung, das Bedürfnis: Geburt, Hochzeit und Begräbnis, die Feste des Jahres sinngemäß und im Einklang mit jenen wurzelhaften Mächten zu begehen, die in den Begriffen „Heimat" und „Glaube berufen und umschrieben sind. So erleben Wir mit dem Trachtenfrühling auch wieder einen Volkstumsfrühling und damit den Aufbruch von Kräften, die man längst verschüttet glaubte.

Diesen, letztlich durch bewußte Trachtenpflege hervorgerufenen Erfolg betrachtet eine gewisse positivistische Volkskunde, die „sonst“ (nicht in diesem Falle) genauest registriert, was da ist und was da war, mit scheelen Augen. Ihr Befund liegt ja bereits vor: die Tracht ist tot — wo sie noch „lebt“ ist sie gefährdet und in Abwehr. Das „bewußte“ Moment ist ihr zutiefst verdächtig. Diese positivistische Volkskunde, meist sehr ferne von der Wirklichkeit eines ursprünglichen Volkslebens und seiner täglichen Wünsche und Forderungen zu Hause, übersieht dabei völlig die großen, umfassenden Zusammenhänge, die dem „Zeitgeist“ und „Volksgeist“ befehlen, Ich einmal nicht nur des Handwerkers, sondern auch des Architekten zu bedienen.

Aber allen Unkenrufen zum Trotz bleiben die schön erreichten Tatsachen Verheißung auf Weiteres Und Größeres. Schon beginnt sich abzuzeichnen, daß vom Rückgrat der Alpen aus mächtige Impulse zu entfernteren Nervpunkten Europas ausstrahlen. Sendboten aus Österreich, Bayern und der Schweiz regen, wie immer wieder berichtet wird,

das Volkstum der West- und Nordstaaten, Frankreich, Holland, Belgien, England, Dänemark, Schweden und Norwegen, entscheidend an. Schon besinnt sich Frankreich, da Und dort seine zwar schönen und interessanten, aber überaus historischen Trachten dem wirklichen Leben zurückzugewinnen. Dasselbe hören wir aus England und Skandinavien. Süd- und Osteuropa, das noch mehr aus dem Vollen schöpft, beginnt unsere Tfachten- erneuerung zu beachten und zu beherzigen. Wieder einmal erweist so der Herzraum des Kontinents seine Sendung, Wahrer und Vermittler hoher Kulturwerte zu sein.

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