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Absurder Monsterzirkus
Graz hat sich um die Rechte der österreichischen Erstaufführung des „Marat“-Dramas von Peter Weiß sehr bemüht. Nun, da das Stück über die Bühne des Grazer Schauspielhauses gegangen ist, muß man sich fragen, ob sich Mühe und Aufwand gelohnt haben. Seit einem Jahr ungefähr hält der Erfolgswdr-bei um dieses Stück in vielen Ländern an. Allein vom barock-monströsen Titel geht schon eine fast sensationelle Anziehungskraft aus: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade.“ Stoff dieses Spiels im Spiel sind Vorgänge aus der französischen Revolution, die aus dem Blickwinkel der Restauration betrachtet werden. Gespielt wird im Badesaal der Irrenanstalt Charenton, Insassen des Hospizes sind die Darsteller, die Zuseher sind der Direktor und seine Familie. Ein als Schalksnarr gekleideter Ausrufer bezieht im Moritatenstil das Publikum im Parkett mit ein. Dieser mehrfachen Brechung der Handlung entsprechen 'auch mehrere Stil- und
Sprachebenen. In die vielen Nummern d'eser Monster-Show sind Gespräche eingebettet — besser gesaigt: nebeneinander laufende Monologe —, die die beiden Hauptfiguren miteinander führen. Der Autor stellt damit den Marquis de Sade, der nicht nur die Lust am Schmerz erfand, sondern hier als Vertreter des extremsten Subjektivismus gelten kann, dem Idealisten und Revolutionär Marat gegenüber: zynische Skepsis wird solcherart mit sozialutopischer Naivität konfrontiert. Die Idee des Franzosen Artaud, in einem totalen Theater („theätre de cru-aute“) alle künstlerischen Mittel zu fusionieren, findet in Peter Weiß' Stück eine für das deutsche Drama jedenfalls sehr weitgehende Verwirklichung. Aus Gebeten, Chorälen, Arien, Sprechchören, Pantomimen und Akrobatik kleisterte der Verfasser eine Collage gewaltigen Ausmaßes. Ohne Brecht wäre das ganze nicht denkbar, aber es geht weit über ihn hinaus (was an sich noch nicht positiv sein muß). Die ganze Irrenhausrevue dient offenbar dazu, die Absurdität der Welt zu zeigen, dieser Welt, die nach des Autors
Meinung ein Narrenhaus oder ein „Grand Guignol“ ist.
Die Grazer Aufführung, Ab-schiedsregie Fritz Zechas, bemühte sich, die zahlreichen politischen Allusionen stärker zu betonen und entfesselte im übrigen wahre theatralische Orgien, wie man sie hierzulande noch nicht erlebt hatte. Diese großartige, mit exzessiven mimischen Mitteln arbeitende Inszenierung zeigte dem hellhörigen Zuschauer aber auch, daß es mit Weißens Stück nicht so weit her ist, wie manche Leute einem weismachen wollen. Die Form des Wer-
kes ist allerdings faszinierend: eine Spielvorlage mit allen erdenklichen Möglichkeiten der Interpretation. Der ganze Tumult aber, der sich als Rechtfertigung für seine Ordinär-heiten und seinen zynischen Pan-sexualismus auf den Herrn de Sade beruft, dieser ekstatische Wirbel dient vor allem dazu, die dünne geistige Substanz zu verschleiern und das Unvermögen des Autors zu kaschieren, einen dramatischen Text zu schreiben, statt strohtrockene Diskussionen durch erklügelte mimische Orgien zu untermalen.
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