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An den Krieg denken

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Bomben krachen, Menschen flüchten in die Schutzräume, Verwundete werden auf Bahren aus den Trümmern geborgen. Dann erklingt die Entwarnung. Wer in diesen Tagen in der Schweiz eine Kinokarte gelöst hat, bekommt solchen Horror als Vorfilm gratis mitgeliefert. 30 Jahre nach der Totalmobilmachung erscheint es den Bundesbehörden angezeigt, der Schweizerischen Wohlstandsgesellschaft ln Erinnerung zu bringen, daß Freiheit und Überleben keine Aktien sind, deren Coupons von allein Zinsen bringen.

Zur gleichen Zeit erhielt jeder Haushalt, Bürger oder „Aufenthalter“ die 320 Seiten starke Broschüre „Zivilverteidigung“ Sie beginnt mit den bekanntesten Worten aus dem Bundesbrief von 1291: „Die Talgemein- den von Uri, Schwyz und Unterwalden haben angesichts der arglistigen Zeit einander Beistand gelobt." Aus den paar Tausend Bergbauem von damals wurde inzwischen ein Volk von fast sechs Millionen Einwohnern, zu denen sich eine weitere Million Fremde gesellen. Gelten die „Ewigen Beschlüsse“ von 1291 auch ihnen?

Zivilschutz

Die ganze Schweiz ist in über 20 Warnsektoren eingeteilt. Frühzeitig kann die Truppe die Meldungen des dichten Beobachtungsnetzes weitergeben. Jeder Besucher des Landes kann sich davon überzeugen: an Talsperren wachen ständig die Wasseralarm-Detachements. Radioapparate zum Empfang der drahtlosen Meldungen sind erste Voraussetzung — das Fernsehen hat seine Rolle hier ausgespielt „Wir sind auch atomaren Angriffen nicht schutzlos preisgegeben!“ Wer sich an die Kampagne in der Bundesrepublik gegen die Notstandsgesetze erinnert — die hierzulande meist nur Unverständnis hervorrief —•, liest die folgenden Seiten besonders aufmerksam. Die präzisen Anweisungen machen aber glaubwürdig, was behauptet wird. Schutzräume, rechtzeitig mit Lebensmittelvorräten, mit Wasser, Gasmasken versorgt, bieten eine reelle Überlebenschance. Neutralität genügt nicht mehr in einem knapp 50.000 Quadratkilometer großen Land.

Es könnte geschehen, daß ... beispielsweise, daß nicht nur an den

Grenzen der Schweiz wieder, wie von 1939 bis 1945, Krieg geführt wird. Das allein hat damals schon auf sechs Jahre Hunderttausende von Männern in die Uniformen, Frauen und Kinder auf die Felder, in di Fabriken und in die Büros gebracht. Es könnte auch geschehen, daß die Schweiz selbst zum Kriegsschauplatz, nach kurzem Waffengang überrollt und besetzt wird. Dann beginne die „Zweite Form des Krieges“. Ihr sind die wichtigsten, durchdachtesten, offensichtlich am Beispiel der CSSR entwickelten Instruktionen dieser Anleitung zur Zivilverteidigung gewidmet. Ver • räterische Parteien — damit beginnt es. Sie sind die fünfte Kolonne des Feindes, verführen zu Defaitismus, versuchen sich in Einschüchterungspropaganda, in Zermürbung jeder Art und in Desorganisation des politischen Lebens. Am Ende erhoffen sie den Staatsstreich und dann den Satellitenstaat. Die Erfahrungen eines ganzen Menschenalters im Umgang mit totalitären Systemen und ihren Helfershelfern haben hier ihren Niederschlag gefunden: von Hitler bis Husak reicht das Vokabular, mit dem noch der Verlust der Freiheit als Fortschritt gepriesen wurde.

Die Broschüre ist keineswegs frei von Pathos. Manchen fast verdächtiger geworden als Pornographie. Aber das Wort Pathos kommt von Leiden. Wer für sein Vaterland nicht mehr zu leiden bereit ist, kann auch die Leiden der Welt nicht verstehen und heilen. Das lebt im Schweizervolk noch heute ungebrochen.

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