6583595-1951_32_06.jpg
Digital In Arbeit

An die Christen

Werbung
Werbung
Werbung

Ich war verwegen genug, sechs Kinder großzuziehen, und das in einer Epoche, wo die Familienväter mehr denn je den ungewöhnlichen Titel verdienen, den ihnen Peguy zuerkannt hat, als er sie die „großen Abenteurer der modernen Welt“ nannte.

Der mittelmäßige Christ ist verachtenswerter als jeder andere Mittelmäßige, er fällt tiefer, fällt mit dem ganzen unwägbaren Gewicht der empfangenen Gnade. .

Ich bin der Meinung, daß keiner, wenn er nicht ein Narr ist, für den außergewöhnlichen Wert eurer Helden, ihr unvergleichliches Menschentum unempfindlich sein kann. Die Bezeichnung Held entspricht ihnen übrigens kaum, die eines Genies ebensowenig. Denn sie sind zugleich Helden und Genies. Aber Heldentum und Genie bleiben gewöhnlich nicht ohne einen gewissen Verlust an menschlicher Substanz, wohingegen eure Heiligen ein Übermaß an Menschentum haben. Ich möchte also sagen, sie sind zugleich Helden, Genies und Kinder.

Wir fragen uns, was ihr Christen eigentlich mit der Gnade Gottes macht. Müßte sie nicht von euch ausstrahlen? Wohin versteckt ihr bloß eure Freude? — Euch Christen erklärt die Meßliturgie zu Teilhabern der Gottheit, ihr, ihr göttlichen Menschen, seid hienieden seit der Himmelfahrt Christi seine sichtbare Person. Gebt zu, daß man euch nicht sofort auf den ersten Blick erkennen kann. .

Ihr seid wie die legendären Italiener, die auf die Stunde des Angriffs warten. Der Oberst schwingt plötzlich den Säbel, springt auf die Schanze, stürmt als einziger mitten durch das Sperrfeuer und schreit: „Avanti! Avantü“, während seine Soldaten, immer noch auf den Boden des Laufgrabens gekauert, wie elektrisiert von so viel Mut mit Tränen in den Augen in die Hände klatschen und „Bravo!“ schreien, „Bravo! Bravissimo!“ *

Fürchtet, die kommen werden, euch zu richten, fürchtet die unschuldigen Kinder, denn sie sind auch furchtbare Kinder. Der einzige Ausweg, der euch noch bleibt, ist der, den euch die Heilige (Theresia) empfiehlt: Werdet selbst zu Kindern, suchet wieder den Geist der Kindheit. Denn die Stunde kommt, wo die Fragen, die euch von allen Enden der Erde vorgelegt werden, so dringlich, so einfach sind, daß ihr nur mit ja oder nein antworten könnt. Ein Christ rettet sich nie allein, er rettet sich nur, wenn er auch die andern rettet. Ich habe einen alten pensionierten Militär gekannt, der aufs Beten und fromme Übungen verfiel, wie eine alte Hummel im Spätherbst in einen Honigtopf gerät. Zu spät zum religiösen Leben gekommen, um mühelos mit den unerläßlichen elementaren Studien fertig zu werden, und von seinem ehemaligen Beruf her gewohnt, die Probleme von einem äußerst konkreten Standpunkt aus zu lösen, hatte er sich darangemacht, jeden Abend in einem Register die Summe der Ablässe einzutragen, die er im Laufe des Tages gewonnen hatte, dreißig Tage hier, fünfhundert Tage dort. Am Ende weniger Monate hatte er es auf eine sehr eindrucksvolle Summe gebracht, zumal seine Erfahrung ihm ermöglichte, unter Vermeidung von Zeitverlust und Verschmähung kleiner Gewinne die vorteilhaftesten Zusammenstellungen zu wählen. Zum Glück hatte er den Einfall, seine Buchhaltung von einem Ordensgeistlichen überprüfen zu lassen, der, nachdem er ihm ein wenig die Epistel gelesen hatte, sein Kontobuch ins Feuer warf.

Meiner Meinung nach kann die Kirche nicht auf menschliche Weise reformiert werden, wenigstens nicht in dem Sinne, wie Luther und Lamennais es verstanden. Ich will gar nicht, daß sie vollkommen sei, sie ist ja dafür lebendig. Wie einer ihrer bescheidensten, ihrer ärmsten Söhne humpelt sie von dieser Welt zur anderen; sie begeht Fehler, sie sühnt sie, und wer nur einen Augenblick die Augen von ihrem Prunk abwendet, hört sie im Dunkel mit uns schluchzen und beten. „Warum sie dann in alles hereinziehen?“ wird man sagen. Aber eben weil sie in alles einbezogen ist. Von ihr habe ich alles; was mich trifft, trifft mich nur durch sie.

Ich habe nicht viel Kenntnisse, die sich verwerten lassen, aber ich weiß, was das ist: die Hoffnung auf ein Gottesreich, und, auf mein Ehrenwort, das ist kein Nichts. Ihr glaubt mir nicht? Um so schlimmer für euch.

Aus „Vorhut der Christenheit“ L. Schwann Verlag, Düsseldorf

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung