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Asien kann die Geduld verlieren

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Während der Weltbanktagung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi erklärte Bundeswirtschaftsminister Erhard, der Bankier werde häufig als der Mann betrachtet, „der Kredite nur bei Sonnenschein gibt, sie aber in Wind und Nebel versagt“. Die Weltbank aber habe gezeigt, daß sie den Entwicklungsländern gerade in schwierigen Lagen Hilfe gewähre.

Journalisten und Delegierte dieser Tagung hatten es wirklich nicht nötig, in dicken Büchern und Berichten zu wälzen, um sich ein Bild der Lage des Landes zu machen. Schon ein paar Schritte neben der modernen Kongreßhalle sahen sie selbst die schreckliche Not, die über Indien lastet, und wie dringend dieses Land auswärtiger Hilfe bedarf. Welchem Delegierten werden nicht die unterernährten Chauffeure aufgefallen sein, die mit ihrer meist zahlreichen Familie im Monat eben nicht mehr als 100 bis 120 Rupien zu verleben haben. (1 Rupie ist etwa 5.50 Schilling.) Und das gilt bei den braunen, hageren Gestalten mit den traurigen Augen schon mehr als ein gutes Einkommen. Ein Landarbeiter erhält zum Beispiel nur 55 bis 65 Rupien im Monat. Wie er davon lebt und seine Familie ernährt, wird jedem Europäer ein unlösbares Rätsel bleiben.

Es ist darum auch kein Wunder, wenn diese Menschen in abgerissenen Fetzen umherlaufen und schmutzig sind. Sie sind einfach zu arm, um sich ein Stück Seife zu kaufen. Sie leben von Tschapati — einer Art fettlosem Brot, das nur aus Wasser und Mehl besteht, dann in dünne Fladen ausgewalzt und auf e;nem heißen Stein gebacken wird. Dazu haben sie noch Bohnen, und wenn ein besonders guter Tag verzeichnet wird, gibt es noch Dal, eine Erbsenart.

Bei einer derartigen Kost ist es nicht verwunderlich, daß den Müttern die Milch ausbleibt und die Säuglinge sterben. Man nimmt es ergeben hin. Wenn die Rede auf derart schreckliche Bilder kommt, gibt es immer wieder Menschen, die einfach sagen, es liege nicht im Sinne dieser Menschen, zu kämpfen; sie wehren sich nicht gegen das Schicksal, sie sind Fatalisten. Diese bei uns so fest verankerte Mär, die bei den religiösen Bräuchen ihre Richtigkeit haben mag, ist ein großer Fehler und zeugt von Unwissenheit. Auch Nehru kennt diesen unseren Fehler, denn in seiner Eröffnungsrede vor der Weltbanktagung sagte er halb mahnend und, halb drohend die Warnung an die industrialisierten Länder: „Lasset es nicht auf das Aeußerste ankommen. Auch die Geduld dieser Menschen hat ihre Grenzen!“

Dieser Mann steht vor nahezu unlösbaren Aufgaben. Und er kann sie nur mit fremder Hilfe bewältigen, denn trotz aller Vorbehalte steht er dem Westen näher als dem Kommunismus.

Indien ist das klassische 'Land der Toleranz. Noch heute steht das Standbild der Königin Viktoria vor dem modernen Rathaus. Und zu Ehren der indischen Gefallenen erhebt sich auch heute noch die Statue König Georgs V. aus dem Park. Unter den Beamten in hohen Staatsstellungen gibt es auch Muselmanen, obwohl sie eine verschwindend kleine Minderheit in Indien darstellen. . . . .

Allerdings: Diese Toleranz schwindet sofort, und zwar endgültig, wenn es um die Kasteneinteilungen geht. Noch immer werden die „Un-berührbaren“ nicht beachtet und brutal zur Seite gestoßen — bildlich —, denn niemand würde sie berühren.

Das also war der gespenstische Hintergrund der diesjährigen Weltbanktagung. Ob sich die Delegierten darüber im klaren waren, daßjndien das weithin sichtbare Schaufenster des Westens für die noch nicht vom Kommunismus überwältigten Länder Asiens ist? Gelingt es, hier das Regime sattelfest zu machen„ dann hat der Westen eine entscheidende Schlacht im Kalten Kriege gewonnen. Gelingt es nicht... das Ende kann sich jeder denken.

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