6681644-1961_47_06.jpg
Digital In Arbeit

Auch „Musterschüler” haben es nicht einfach

Werbung
Werbung
Werbung

So hat sich dieses Land nicht nur den Ruf eines „Musterschülers” der Sowjetunion erworben, sondern auch jenen, daß es sozusagen päpstlicher als der Papst sei. Ein gewaltiges Stalin- Denkmal steht noch über dem jenseitigen Ufer der Moldau, und an den Mauern des Lenin-Museums prangen Aussprüche Stalins. Das wäre in Warschau und auch in Ungarn unmöglich. In Rumänien hat man längst begonnen, die Stalin-Benennungen abzuändern. Der berühmte 20. Parteitag von 1956 mit Chruschtschows Proklamation hinterließ, von einigen Erleichterungen im kulturellen Leben abgesehen, im Alltag der CSSR kaum Spuren. Bis auf acht Prozent ist die Landwirtschaft kollektivisiert (in Polen ist es umgekehrt, dort sind nur zehn Prozent kollektiv), Privatläden gibt es nur in verschwindendem Minimum, also herrscht absolute Programmtreue — und doch hat man unter den Satelliten das beste wirtschaftliche Niveau. Darauf wird hingewiesen. Dabei übergeht man allerdings, daß die CSSR bereits früher ein hochindustrialisiertes Land von enor mer Produktionskapazität war und fast keine Kriegsverluste erlitt. So findet die heutige Wirtschaftslage, die sich freilich, und gerade für den Durchschnittseinwohner, noch immer tief unter der westlichen hält, eine einfache Erklärung.

Man kann mit dem Kunstführer in der Hand durch Prag gehen, und es ist vielleicht dem einen und anderen Autobustouristen möglich, alle Aufmerksamkeit von dem ungeheuren baulichen Eindruck, von der wohl unvergleichlichen imposanten Romantik dieser Stadt ausfüllen zu lassen. Unter dieser Ebene liegt aber eine andere, die man betritt, wenn sich der Einblick in das heutige reale Leben öffnet. Die Menschen auf der Straße, in den Straßenbahnen sprechen mit Verbitterung und Offenheit, wenn auch in leisem Tonfall. Natürlich merkt man sogar im Prager Kunstführer und an sonstigen äußeren Symptomen die Lage: auf Kafka, Rilke und Werfel gibt es weder im Kunstführer noch auf den Geburts- oder Wohnhäusern Hinweise, obwohl die Stadt sonst mit Gedenktafeln übersät ist. Der flüchtig musternde Tourist kann auch an der Unzahl farbiger Passanten, die vom tiefen Schwarz bis zur bräunlichen Tönung alle Valeurs vertreten, ein gewohnt weltstädtisches Bild zu erkennen glauben. Bis er erfährt, daß engste politische Beziehungen mit den ehemaligen Kolonialländern bestehen und freizügig staatliche Einladungen ausgegeben werden. Eben beschloß man, in Prag eine eigene „Universität” für Ausländer zu gründen. „Man wird dort Lesen und Schreiben lehren müssen”, sagen klarsehende Leute. Immerhin merkt man auch hier die genau durchdachte Planung.

Prag ist also eine wirtschaftliche Auslage und ein kunsthistorisches Schaustück allerersten Ranges der heutigen östlichen Hemisphäre. Daß diese beiden Tatsachen zur Tagesrealität des einzelnen in scharfem Kontrast stehen und überhaupt eine Kette von Gegensätzlichkeiten zur Folge haben, dies alles ergibt einen hochgradigen Manierismus, in den die volksdemokratische Wirklichkeit tief verstrickt ist und der in Prag, dieser Stadt des Manierismus, wie nirgends anders fühlbar wird. Denn wenn auch alle die alten Paläste und Kirchen nur als museale Gebäude so gewissenhaft erhalten werden, so geben sie doch in jeder Sekunde Zeugnis für eine glanzvolle Epoche, für eine Epoche der Kirche, des Feudalismus, der Bürgerlichkeit, und alle die hundert Türme und ungezählten Heiligen, die auf den Straßen und Plätzen in wallenden Gewändern ihre Kreuze emporhalten, mahnen nicht nur an die so andersartige Vergangenheit, der diese Stadt ihre Pracht verdankt, sondern auch an die andere Möglichkeit im Heute. In keiner anderen Stadt wird, wie in dieser Stadt des Mittelalters und Barocks, in dieser Stadt Rilkes und Kafkas, das Irrationale zu einem so fordernden Erlebnis. Das sozialistische Regime konserviert die Denkmäler, aber versucht gleichzeitig, ihren Geist zu bekämpfen. Es liegt in scharfem Angriff.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung