Belarus – ein Land im Koma
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren. Nun liegt nach „Rote Kreuze“ auch sein literarisches Debüt „Der ehemalige Sohn“ in deutscher Übersetzung vor – ein Roman, der das Zeug zum Zeitdokument hat.
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren. Nun liegt nach „Rote Kreuze“ auch sein literarisches Debüt „Der ehemalige Sohn“ in deutscher Übersetzung vor – ein Roman, der das Zeug zum Zeitdokument hat.
Die Geschichte, die der Autor und Journalist Sasha Filipenko hier erzählt, war schon 2014, als der Roman erstmals erschien, perfekt gewählt: Nichts charakterisiert das postsowjetische Belarus, das Land des Langzeitpräsidenten Alexander Lukaschenko treffender als das Koma, der nicht enden wollende Tiefschlaf. Der 1984 in Minsk geborene (und Russisch schreibende) Filipenko ist kein Freund des Regimes, und Romane mit klarer politischer Tendenz sind oft leicht verderbliche Ware. Hier trifft das nicht zu. Der Autor hat den Nerv einer Epoche getroffen und, egal wie lange die Herrschaft von Alexander Lukaschenko noch dauern wird, der Roman hat (mit gewissen Einschränkungen) durchaus das Zeug zum Zeitdokument.
Zwei Perspektiven
Zum Inhalt: Ein junger Mann gerät in der belarussischen Hauptstadt Minsk, am Rande eines Rockkonzerts, in eine Massenpanik, wird schwer verletzt und fällt ins Koma. Als er Jahre später erwacht, scheint sich im Lande nicht allzu viel verändert zu haben. Diese Gestaltungsidee eröffnet dem Autor zwei Perspektiven: Einmal erzählt die Großmutter dem im Koma liegenden jungen Mann, was im Lande passiert oder eben gerade nicht passiert. Dann, als die Großmutter stirbt und er wider jede ärztliche Prognose doch noch erwacht, sind es seine Freunde, die ihm erzählend die verlorenen Jahre näherbringen. Schließlich findet der Held zurück in die Normalität. Wenn man diese Abfolge von menschlichen und politischen Enttäuschungen „Normalität“ nennen will. Er beschließt, das Land zu verlassen. Denn irgendwo wartet ein Leben auf ihn. Er war ein Sohn dieses Landes. Jetzt ist er, und so lautet ja auch der Titel des Romans, eben ein ehemaliger Sohn.
Bald nach dem Unfall haben fast alle den jungen Musikstudenten Franzisk schon aufgegeben. Aus dem nur noch dahinvegetierenden „Gemüse“ – eine abmildernde Schöpfung der Übersetzerin Ruth Altenhofer für den russischen „Krautkopf“ –, aus dem „Gemüse“ also, so die allgemeine Ansicht, wird nichts mehr. Doch da ist eben noch die Großmutter, die ihren Enkel nicht fallen lässt. Sie ist durch die harte Schule des sowjetischen Alltags gegangen. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Mit ihrer bedingungslosen Liebe und der Magie des Wortes hält sie ihren Enkel am Leben. Beschwörung, Zauberei, wie auch immer – ein bisschen Poesie verträgt jede Geschichte.
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