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Bildnerische Kraft und Erziehung

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Aus verschiedenen Beobachtungen und Erfahrungen mit begabten Kindern kann man erkennen, wie groß und rein das schaffende und kämpfende Leben ist. Es ist ein seltsames Wunder um das künstlerische Schaffen des Kindes. Wer das Herz hat, mit den Kindern Bilder zu lesen, dem vertrauen Hunderte Kinder die Äußerungen ihrer seelischen Kräfte an. Und in dem unverbildeten Arbeiter-, Bauern- und Handwerkerkindern ist die natürliche Formkraft stark erhalten.

Die Kinder aus der Stadt sollten in besonderem Maße wieder den Mut und die Kraft bekommen, ihre eigenen Aussagen in allen ihren Lebensäußerungen zu geben. Um das zu erreichen, muß allerdings aus dem Zeichenlehrer vergangener Tage ein schöpferischer Erzieher werden, aus dem Erzieher-Beamten ein Erzieher-Künstler.

Wer aus den Arbeiten der „bildenden Kinder“ zu lesen versteht, kann an ein Lebendigwerden verschütteter Formkraft im Volk nicht zweifeln. Wir erleben an den Gestaltungen der unverfälschten Kinderarbeiten, wie sie ans Licht drängt. Diese Kinder, wie suchen sie doch nach Ausbildung und Lehre, noch mehr, nach Führung und Aufgabe. Die schöpferischen Kräfte unseres Volkes haben allen zerstörenden Einflüssen standgehalten. Der Wille und die Kraft zu formen wurde von Generation zu Generation weitervererbt. Die stille schöpferische Kraft ist im Kinde da, wie sie einst im Volke allgemein und gleichgeachtet mit der Kunst der großen Meister lebte. Bei einem Eingehen in die Formenwelt des kindlichen Gestaltens ergeben sich manche Folgerungen über Methodik und Aufgaben, manche Beobachtungen und Betrachtungen, Erkenntnisse und Zweifel.

Sind nicht genug Anklagen gegen die verschiedenen Experimente auf dem Gebiet der Erziehung und Kulturentwicklung der letzten Jahrzehnte erhoben worden? Das alles gilt es zunächst einmal zu überdenken. Ist es nicht bedenklich, daß der Aufbruch der künstlerischen Jugend um 1900 im Zeichenunterricht keinerlei weitgehende Folgerungen gehabt hat? Diese künstlerischen Pioniere, auf deren grundlegenden Leistungen heute weitergebaut wird, sind sie an den negativen Kräften spurlos vorbeigegangen? Genug der Anklagen. Die Vision, die uns dabei befällt, ist lächerlich und schauderhaft. Die jüngeren Leute entdecken gelegentlich bei ihren Eltern Zeugnisse vergangener Zeichenkunst aus der Gymnasialzeit. Keine Entäußerung seelischer Kraft. Eine undurchsichtige Staubschicht war über die Gipsmodelle gebreitet. Und dies zu zeichnen,war Anfang und Ende. In dieselbe Zeit fiel der Aufbruch der künstlerischen Jugend in Kunst und Handwerk in Deutschland. Der Stoßtrupp einer kleinen Künstlerschar, die als leidenschaftliche Moralisten und Eiferer gegen den Mißbrauch des edelsten Menschenbesitzes (Scheffler) den erstaunlichen Versuch unternommen haben, an Stelle des gesamten sie umgebenden Plunders (Markartbukett, Pilotyatelier) etwas Neues, Besseres zu setzen. Sie haben sich ans Werk gemacht, das ist ihr dauernder Ruhm, ein Ruhm, der spät erglänzen wird. Ihre Tat: dem erdrückenden Erbe inneren Pulsschlag entgegengesetzt zu haben. Dieser Pulsschlag erreichte das Leben, aber nicht die Schule. Der Zeichenunterricht war bis zum Auftauchen einiger Jugend-Kunstklassen (Cizek,Wien) kein Kunstunterricht. Das kindliche Formschaffen wurde im Gegenteil oft durch den Unterricht erst recht verschüttet.

Es ist schwer, dem heutigen Menschen eine Vorstellung zu geben, wie geordnet, still und grau vordem eine Straße in einer Großstadt aussah. Kein farbiger Hausanstrich, keine Blumenverkäufer, die Fensterrahmen waren braun, grün oder grau, die Geschäfte hatten kein gut beschriftetes Firmenschild. Dem geschilderten künstlerischen Aufbruch — und ich möchte damit nicht den Anspruch einer kulturphilosophischen Untersuchung erheben, danken wir die Wegfindung zum Neuen. Freuen wir uns über unsere eigene Kraft und lernen wir vergessen. Wir wollen nicht Gericht halten über die vergangene Zeit, aber in der Gegenwart keine staubgetränkten Gipskabinette dulden. Werfen wir uns in eine grüne Wiese, tun wir gleich Menschen, die lang im dunklen Zimmer eingeschlossen waren.

Erfreuen wir uns der Bäume und Sträucher, schauen wir die Wolken am Himmel, lernen wir wieder Gesichter sehen. Fragen wir nicht um Zweck und Sinn, wohin die Wolken ziehen. Sehen wir die Blumen wie ausgestreute Farbflecken auf grünen Decken. Zählen wir keine Staubgefäße, „sondern trinken, was die Wimper hält“ (Goethe).

Diese Fragen drängen sich von selbst auf und nehmen das Grundlegende, das sich zunächst auf das Formale bezieht, vorweg. Zuerst muß das Ergebnis da sein, das aus dem dunklen Zimmer ins Freie führt. Diese Bindung an das Naturgeschehen und seine Vertiefung führt zur schöpferischen und aufrechten, nicht entmutigten Gestaltung des Kindes.

Das brennende Geheimnis aber, das wenigen Menschen noch zum Bewußtsein gekommen ist: Daß es in der Kunst und vor allem in der Volkskunst und beim Schaffen des Kindes in erster Linie auf die „Ergriffenheit“ und weniger auf das Erlernen ankommt.

Diese Beobachtung veranlaßte mich, die Jugendkunstklasse als vorbereitende Stufe für die Meisterschule einzuführen.

Ich denke an die Worte Novalis, „ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe“. Jede Stufe der Bildung fängt mit der Kindheit an.

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