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Chronik einer Familie

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Eine Frau zwischen zwei Welten. Roman. Von Georgina Sime und Frank Nicholson. Paul-Neff-Verlag, Wien-Berlin-Stuttgart. 488 Seiten

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Eine Frau zwischen zwei Welten. Roman. Von Georgina Sime und Frank Nicholson. Paul-Neff-Verlag, Wien-Berlin-Stuttgart. 488 Seiten

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Eine Engländerin schreibt hier die Geschichte einer österreichischen Familie, die um die Jahrhundertwende in Wien beginnt und zur Zeit des zweiten Weltkrieges in Kanada endet. Es ist ein altmodisches, in mancher Hinsicht ungeschickt und allzu weitschweifig geschriebenes Buch, das trotzdem einen großen Zauber hat durch die Lebendigkeit und Ursprünglichkeit seiner Gestalten. Die Wiener Atmosphäre ist mit viel Einfühlungsvermögen erspürt, die Besonderheit der Menschen dieser Stadt, in denen so viele verschiedene Elemente und Traditionen sich begegnen. sehr gut gezeichnet.

Da ist Ida Racz, aus adeligen Offizierskreisen stammend, die durch ihre Ehe mit einem ungarischen Zigeunerprimas aus ihrer behüteten Umwelt in ein unsicheres, an inneren und äußeren Bedrängnissen, aber auch an echten Leidenschaften reiches Leben gerät, das sie mit der ihr anerzogenen Standhaftigkeit und Treue und vor allem mit sehr viel Liebe bewältigt. Da sind ihre vier Kinder, in denen die so gegensätzliche Vergangenheit und Erbmasse ihter Vorfahren teils schwere Konflikte auslöst, in Kathi aber, einer der Hauptpersonen des Buches, sehr harmonisch und reizvoll sich auswirkt. Faszinierend auch der kleine Kreis von Menschen um die Racz- Familie: die tschechische Modistin Paula Martinek, eine unverbildete, warmherzige und großzügige Frau aus dem Volk; die charmante Lehrerin Toni Berger, die ihre innere Einsamkeit mit leidenschaftlicher Anteilnahme für ihre Schülerinnen zu überwinden sucht; der gescheite jüdische Schriftsteller Salomon

Ehrlich, ein gütiger, hilfsbereiter Sonderling, dessen Menschlichkeit ihm Brücke zur Welt bleibt; der Flickschuster Hans Brandi, dessen sozialistischen Idealen alles Abstrakte fehlt und in dessen kleiner Werkstatt sich die Schulbuben seiner Umgebung zu hitzigen Diskussionen versammeln, bei denen sie viel iürs Leben mitbekommen. Eine in ihrer Bescheidenheit sehr liebenswerte kleine Welt, die Georgina Sime anschaulich schildert.

Ebenso wesentlich ist, was sie zur Problematik des Auswanderers zu sagen hat, dessen seelische Konflikte sie genau kennt — seine anfängliche Verlorenheit zwischen der alten und der neuen Heimat, in der meist erst die zweite Generation wirklich zu Hause ist. Die innere Verarmung auch der ersten Generation, deren Gefühlstiefe und Sensibilität leiden muß in einer Umwelt, die ganz auf praktische Tüchtigkeit eingestellt und in der das „Geschäft ' beinahe der einzige Lebenszweck ist. Da kommt es dann sehr auf die Frauen an, welcher Raum den Kräften des Herzens bewahrt bleibt. Das wird in diesem Buch überzeugend in dem neuen Leben der Kathi Racz in Kanada gezeigt, die bei aller beruflichen Ueberlastung doch der warme mütterliche Mittelpunkt ihrer Familie bleibt und dem ganz auf äußeres Vorwärtskommen gerichteten Dasein ihres Mannes Halt und Sinn gibt.

Die Vorzüge dieses Buches werden sich nur dem erschließen, der mit Muße an die Lektüre herangeht: nimmt er sie sich, wird er nicht enttäuscht werden.

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