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Bücher der Kindheit

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Wer die frühen Kindheitserinnerungen Pagnols liest, weiß, woher dieser Schriftsteller seine Vitalität und Volkstümlichkeit hat, die seinen Dramen ihr besonderes Gesicht geben. Diese heute rar gewordenen Fähigkeiten konnten sich entfalten in der äußerlich begrenzten, aber innerlich reichen Welt seiner Jugend, die er in seinem Erinnerungsbuch hinreißend beschreibt. Eigentlich sind es nur drei Elemente, welche die Kinderjahre Pagnols bestimmen und prägen: eine warmherzige, liebenswerte Familie, die Schule — ja, auch sie! — und vor allem die Ferienmonate in der kleinen „Villa in den Hügeln“, in den Wäldern und Bergen der Provence, in denen der kleine Bub alle Wunder und Gefahren der Natur entdeckt. Das Stromern in deT wilden, schönen Landschaft, die Jagden mit seinem Vater und Onkel, bei denen der kleine Marcel als „Jagdhund“ fungiert, das Fallenstellen mit seinem Freund Lili, einem einheimischen Bauernjungen, die Grillen- und Ameisenjagden mit seinem kleinen Bruder, die abenteuerlichen Wanderungen der Familie durch verbotene Schloßgärten in ihr kleines Ferienhaus — das alles rundet sich zu einem guten, sicheren Fundament, auf dem sich ein eigenwilliges und kräftiges Leben bauen läßt.

Ein besonderer Zug dieser Kindheitserinnerungen scheint uns das Fehlen jeder falschen Sentimentalität und Verklärung einer Lebensperiode, die im Rückblick so oft verharmlost wird. Pagnol scheut sich nicht, die ursprüngliche Grausamkeit des Kindes mit Beispielen zu belegen, etwa, wenn er von den wahrhaft unbarmherzigen Tierexperimenten und blutrünstigen Indianerspielen der beiden kleinen Brüder berichtet. Aber unmittelbar daneben stehen dann die zartesten Aufmerksamkeiten für die sanfte zerbrechliche MutteT, die herbscheue Freundschaft mit Lili, die ehrgeizige Bewunderung für den ihm lange Zeit unfehlbar erscheinenden Vater. Pagnol hat nicht vergessen, daß solche widersprüchlichen Erfahrungen in der Welt des Kindes Platz haben, ja sich zu unmittelbarer Einheit verschmelzen, wie sie in späteren Lebensepochen nicht mehr gelingen will.

Diese Einsicht macht die Lektüre des Buches besonders reizvoll, und dazu der köstliche, mit leichter Ironie gewürzte Humor der Welt- und Menschenbetrachtung des Kindes, der freilich eine nachträgliche Beigabe des erwachsenen Pagnol sein dürfte.

Jugenderinnerungen sind das Thema auch des Romans „Der sechste Tag“ von J. V. Kopp. Eine behütete Kindheit auch diese, und doch, wieviel Wirrnis und frühes Leid spiegelt sich in diesem Knabenleben! Neben kindlich-fröhlichen Spielen und der eigenwilligen Eroberung der Welt und ihrer Geheimnisse ist „ein Heer von Bedrohnissen“ da, das auch der kauzig-freundliche Vater und die gütige Mutter nicht abzuwenden vermögen. Der Zusammenprall zwischen Traum und Wirklichkeit ist schmerzhaft für den Knaben; eine innig-zarte Kinderliebe zu Rahel, dem „Hebräerkind“, gibt ihm Rätsel über Rätsel auf; und an der Wende zum Jünglingsalter steht dann die aufwühlende Begegnung mit dem Tod. Der Selbstmord des Fuhrmanns, seines alten Freundes, bedeutet für den Halbwüchsigen die Erfahrung der Bodenlosigkeit menschlicher Existenz: „Ich hatte damals zum erstenmal das schwindelnde Gefühl, ich sinke mit dem Bett, mit dem Zimmer, mit dem Haus, mit der Welt lautlos und in rasender Fahrt in un-ergründbare Tiefen ...“

Das Schlußkapitel, ein Rückblick des alternden, zu einem Klassentreffen in seine Heimatstadt gekommenen Mannes, ist ein kleines Kunstwerk für sich. Da gibt es viel, fast bittere Resignation: Das „wiedergefundene Paradies“ erweist sich „eingeschrumpft und mit verhauchter Seele ... Wozu diese Konfrontation? Warum die erzwungene Einkehr in den allgegenwärtigen Zerfall? Wozu eine Melodie wecken, die doch niemand mehr zu singen verstand?“

Aber am Ende ergeben sich Ausblicke, die der einstige Schulkamerad Ittig, ein Stiefkind des Schicksals, dem Erzähler eröffnet. „Vergessen können und mehr sein als man ist...“ — diese Weisheit gibt der Gestrauchelte dem „Heimkehrer“ zu bedenken. Und dieser nimmt Ittig an die Hand, um ihm bei diesem Experiment zu helfen.

Anders als bei Frisch und Dürrenmatt ist diese, in der Rolle des Außenseiters sich dokumentierende, gegen die allzusehr auf Wohlstand und äußere Sicherheit ausgerichtete Lebensart der Eidgenossen. Kopp wirft, wie auch seine Landsleute Faßbind und Guggenheim, die Erfahrungen des Herzens in die Waagschale gegen den Materialismus und die zerstörerischen Kräfte unserer Zeit — welch eine Wohltat!

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