6638695-1957_31_11.jpg
Digital In Arbeit

Chronik einer Kindheit

19451960198020002020

Leonhard. Von Fritz Alexander Kauffman n. Deutsche Vcrlagsanstalt, Stuttgart. 438 Seiten.

19451960198020002020

Leonhard. Von Fritz Alexander Kauffman n. Deutsche Vcrlagsanstalt, Stuttgart. 438 Seiten.

Werbung
Werbung
Werbung

Für diese Chronik einer, Kindheit — auf 488 Seiten werden die ersten zehn Lebensjahre des Knaben Leonhard Ammann breit und behäbig, mit sicherem Blick vor allem auch für die innere Entwicklung beschrieben —, .muß der Leser viel Ruhe und Beschaulichkeit aufbringen. Wer sich aber einmal eingelesen hat, wird sich vielfältig belohnt finden. Vor ihm entfaltet sich die ursprüngliche, noch ganz geschlossene Welt eines Knaben, in der alle Kräfte, die seelischen, die geistigen, aber auch die handwerklich-praktischen, gleichmäßig Anregung erhalten, mit gläubiger Frische aufgenommen werden und sich in schöner Harmonie entwickeln. Eine Kindheit, unsäglich reich, inmitten eines lebensvollen Elternhauses, im Kreise von vier Brüdern, behütet von einer sanften, in sich ruhenden Mutter, und bewegt, ja manchmal erschüttert von den tollen Einfällen und seltsamen Eskapaden des leidenschaftlichen und unsteten Vaters, in die die Buben, besonders aber Leonhard, der älteste, hineingezogen werden, auf daß ihrer friedlichen idyllischen Welt das Stürmische und Gefährliche nicht fremd bleibe.

Den Hintergrund und das sichere Fundament dieses Kinderlebens um die Jahrhundertwende bildet das schwäbische Kloster Denkendorf, in, dessen Klausurgebäude der Großvater Leonhards eine kleine Gewürzfabrik errichtet hat. Da ist zunächst der schöne äußere Rahmen: „Eine Einheit aus Bauwerken, Gärten, Natur und Landschaft...“ Nicht genug aber mit dem schönen äußeren Umschriebensein dieses Bildes. Es .wurde je und je ergänzt und bestätigt durch ein Innewohnendes ... „Indem der Ort seit den Anfängen so viele gesittete Menschen und Familien freundnachbarlich vereinigte, muß immer wieder der Geist der Bildung und der guten Werke hier gewaltet haben. Aus lang gepflegtem Eigentum, tätigem Erwerb und häuslicher Tugend entwickelte sich, vom Zauber des Gebäus gefördert, noch unter den letzten Besitzern und vor allem im eigentlichen Kloster ein Etwas der Seele, das die Umräume heranholte, die Mauern streifte, dem Samt der mächtigen Dächer sich beimengte und dieser ganzen — im Grunde so bescheidenen — Welt wie ein kostbarer Flaum anzuspüren war.“

In dieser glücklichen Umgebung also spielt Leonhard seine Knabenspiele: in den ehrwürdigen und geheimnisreichen Klostergewölben, in Feld und Wald und Garten, eng verbunden mit Tier und Pflanzen, aber auch — durch die kleine Fabrik — mit dem modernen Leben, der Technik, freilich einer noch gezähmten Technik, die dem Menschen dient, nicht aber ihn zu verschlingen droht. Hier sieht er den Handwerkern auf die Finger und versucht sich selbst im Gebrauch der eigenen, vom Vater geschenkten Werkzeuge; auf dem Weiher des Klosters läßt er seine schönen Schiffe schwimmen, die ihn in die Weite der Welt entführten. Hier lebt er „mit den Tieren aller Zonen unter einem Dach zusammen. Die Geschichte . von der Arche Noah, welche ihm die Mutter erzählte, wurde gewissermaßen sein persönliches Schicksal Das Kloster hatte die Würden jenes heiligen Urschiffes mit zu übernehmen. Und alles kam dadurch, daß man dem Büblein nach und nach die vielen Bände der großen Ausgabe von Brehms ,Tierleben‘ aus dem Bücherschrank holte. .. Vom Vater hörte er dann und wann ein Wort wie Afrika, Indien, Sumatra, und es wurde mit einem solchen Respekt von Ferne, Wildheit und traumhaften Möglichkeiten gesprochen, daß er alsbald wußte, woran er war. Ohnehin hatte er die Klänge der fremden Weltgegenden schon längst im Ohr, weil Gewürze, Früchte, Spirituosen und Weine aus den entlegensten Bereichen im Kloster sich ein Stelldichein gaben.“ Aus der sicheren Begrenzung der patriarchalischen heimatlichen Welt nimmt also das Kind die Ferne in sein Leben hinein, alles verschmelzend zu einem Fundament, auf dem sich wohl ein1 Leben bauen läßt, dessen Stabilität und Harmonie auch"1 spätere Enttäuschungen und Abstriche nicht zu erschüttern vermögen, wie dieser liebevolle Rückblick aus der Perspektive des reifen Alters erweist.

Wie hinreißend auch die bildhafte, ganz erfüllte Sprache Kauffmanns, in der die Macht bestimmter Worte, der ihnen innewohnende ursprüngliche Sinngehalt, plötzlich den Leser überfällt, den unsere nachlässige Sprechweise so häufig verdeckt und abschleift. Dieses Buch enthält große Prosa, wie sie im deutschen Sprachraum heute leaum noch anzutreffen ist. — Lieber den Autor wäre noch zu sagen, daß Kauffmann ursprünglich Interpret bildender Kunst gewesen ist. 1945 kam er durch einen Autounfall, kaum 54 Jahre alt, ums Leben und hinterließ außer dem unvollendeten „Leonhard“ — der Bericht dieser Kindheit sollte bis ins vierzehnte Jahr seines Helden fortgeführt werden — nur zwei andere Schriften: „Die Woge, des Hokusai" (eine Bildanalyse des japanischen Holzschnitts) und das Rombuch „Roms ewiges Antlitz — Formschicksal einer Stadt“. Es wäre sehr zu wünschen, daß Kauffmann durch den erst jetzt herausgebrachten „Leonhard" einer breiteren Leserschicht bekannt würde, daß er die Leser findet, die er verdient.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung