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Das Eigentliche und seine Verhüllung

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Allenthalben müssen wir die Beobachtung machen, wie das, was ein volkstümlicher Ausdruck als das „Drum und Dran“ bezeichnet, eine gefährliche Neigung zum Ueberwuchern bekundet, ja, das Eigentliche fast unvermerkt bis zur Unwahrnehmlichkeit einzuhüllen gesonnen ist. Und je höhere Würde wir diesem Eigentlichen zuerkennen, um so bestürzter werden uns die seltenen Augenblicke machen, in denen solche Ueberwucherungs- und Einhüllungstendenzen der Anhängsel uns zum Bewußtsein kommen.

Die Geburt Jesu Christi im bethlehemitischen Stall, die Verkündung des Engels auf dem Felde, ja selbst noch die Anbetung der Hirten vor der Krippe, das waren nackte und beiwerklose Geschehnisse. Sie ereigneten sich in einer Verlassenheit, Entblößung und Armut, die dem heutigen, so sehr an Zutaten gewöhnten Menschen kaum mehr vorstellbar sind und ein unerbittliches Schrecknis auf ihn werfen müßten. Was dort geschah, das ist nicht vorzugsweise etwas Sinniges, etwas Gemütvoll-Poetisches. Es ist radikal und es ist brutal; es ist der überwältigende Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, und kein Menschenleben reichte aus, diese Ungeheuerlichkeit zu Ende zu denken. Das haben die Hirten gefühlt; ehe der Engel sie zur Freude aufzurufen vermochte, mußte er sie mahnen, ihres furchtbaren Erschreckens Herr zu werden. Dies also ist das Eigentliche, das Essentielle des Weihnachtsfestes. Alles andere, es mag so schön, so ehrwürdig, so lieb und so vertraut sein, wie es will, bleibt akzidentiell; aber als „Drum und Dran“ hat es langsam und schlingpflanzen- haft den Ort überzogen, der dem Eigentlichen hatte aufbehalten sein sollen.

Ganze Gewerbszweige haben sich des Festes bemächtigt. Das Wort „weihnachtlich“ läßt in erster Linie an Lichterglanz und Geschenke, an den Duft von Pfefferkuchen und angesengten Tannennadeln denken, an liebe Herkömmlichkeiten, wie sie jeder Familie eigen sind und zum Unterschied von anderen Ueberlieferungen vornehmlich durch die Frauen gehütet und weitergegeben werden, an bestimmte Lieder, bestimmte Speisen und GetTänke, von denen jedes einzelne mehr ist, als es zu sein scheint, weil es Macht hat, ganze Welten der Erinnerung und Empfindung aufzurufen. Für viele, noch dazu von Weihnachtsvorbereitungen abgemattete Menschen erschöpft sich so das Fest in dem gefährlichen und verschwommenen Begriff der „Stimmung", in Behaglichkeiten, Erinnerungen ur d Nebenfreuden, in dem zur Rührung bewegenden bürgerlichen Idyll unter dem Tannenbaum.

Ich bin kein Puritaner; ich bekenne mich gern zur Freude an Festfeiern und hänge in Sonderheit allen weihnachtlichen Bräuchen von Herzen an. Aber ich kann es nicht hindern, daß mich alljährlich das Erschrecken vor den überwuchernden Anhängseln überfällt.

Ich will keineswegs behaupten, daß diese Gedanken bei mir die Weihnachtstage im eigentlichen Sinne beherrschen. Wohl aber treten sie an jedem Weihnachtsfeste beunruhigend hervor, um dann, wie es ja der Weise des Menschenlebens entspricht, auf irgendeine Art abgefunden, beschwichtigt und zur Seite verwiesen zu werden. Allein sie kehren wieder, sie verdichten sich zu dem Verlangen: einmal fort aus allem

Drum und Dran, fort aus den Stimmungen, fort aus den Sentimentalitäten, aber auch fort aus der Erinnerung an die Seligkeiten der Kindheit, fort aus diesen Zimmern voller Tannenbäume, Lieder, Geschenke, Gebäck und Getränk, fort in eine völlige Abgeschiedenheit, fort in die einsame Konfrontation mit dem Eigentlichen der Weihnachtszeit!

Diesem Drange gegenüber sind die Entschuldigungen, die Ausflüchte geschwind bei der Hand, und in der Tat scheinen die Hindernisse unüberwindlich. Wie soll denn ein solches Verlangen befriedigt werden, ohne daß zahllose andere, sicherlich nicht unberechtigte Ansprüche darüber zu Schaden kämen? „Später, später!“ nimmt man sich vor, „später, wenn man alt geworden ist und nicht mehr um die Weihnachtsfreude von Kindern besorgt zu sein hat!“

Aber gehört das nicht zu jenen Aufschier bungen, in denen jeder von uns ein Meister ist? Schieben wir nicht alle etwas, dessen Notwendigkeit wir fühlen, ja dessen Verrichtung unserem Leben erst den Sinn gäbe, vor uns her? Trösten wir uns nicht immer wieder mit der Festsetzung, es sei noch nicht an der Zeit, es müsse erst das und das getan, das und das eingetreten sein, ehe wir dem ergangenen Rufe folgen dürfen? Und doch fühlen wir uns gemahnt: hic Rhodus, hic salta! Hodie Rhodus, hodie saltandum! Aber der große Sprung, der Sprung über die Gefängnismauern der Umstände, der Sprung über die Grenzen unserer eigenen Natur, bleibt ungetan. Wie ein Vorwurf, wie ein Urteil steht

Tolstojs Fortgang vor uns: zweiundachtzigjährig, schon unter der Beschattung des näherrückenden Todes, verließ er das Drum und Dran, um nackt der Essenz des Lebens gegenüberzutreten.

In den Zusammenhängen, die uns hier beschäftigen, steht das Weihnachtsfest nicht nur für sich, sondern zugleich auch stellvertretend für die Ganzheit unseres Daseins und der so vielfältig von Kompromissen befleckten Erdenwelt. Selbst das Unverwerflichste gehört in irgendeinem Betracht noch unter die „vielen Güter", deren hindernde Kraft der reiche Jüngling des Evangeliums in so erschütternder Art zu erfahren hatte.

Diese Gedanken sind nicht zu Ende zu denken. Wir ertrügen sie nicht. Es bleibt uns nichts übrig, als sie vertrauensvoll in die große Paradoxie des Weltgefüges einzuschließen.

Das beunruhigte Gewissen gehört zum Wesen des Weihnachtsfestes. Es ist der bittere, der dunkle Tropfen, der sich dem lichten Freudenwein beimengt. Eindringlicher, schmerzlicher noch als sonst werden wir daran erinnert, daß wir nicht im Raume des Absoluten leben, sondern Gefangene der Bedingtheit sind. Aber gerade dies Heimweh nach einem absoluten, von allem Drum und Dran gereinigten Zustande hat ja im Weihnachtsfest seine eigentliche Feier. Denn was sonst will uns das Weihnachtsgeheimnis verbürgen als jenen unirdischen Zustand der Essentialität, dem wir mit allem Geschaffenen uns selber zustreben fühlen, jenen Zustand, da alles Akzidentielle abfällt und das Unbedingte die Freigewordenen aufnimmt?

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