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„Das Kind“ und der Mann

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Magie des Schöpferrhythmus? In 70 kürzeren Filmen hat Charlie Chaplin in dem Jahrsiebent zwischen 1914 und 1921 gespielt. Sieben Jahre umfaßt die Blütezeit (1921 bis 1928, Kid, Pilgrim, Goldrausch, Zirkus). Der klassische Stumm-Ton-Bastard „Lichter der Großstadt“ leitet zur letzten, zur Tonfilmepoche über, in der in dreimal sieben Jahren (1936 bis 1957) wieder 4 + 1 Film entstehen: Modern Times, Diktator, Verdoux, Limelight und (Uraufführung vor kurzem in London) „Ein König in New York“.

„Th e Kid“ („Das Kind“, amerikanische Premiere 6. Februar 1921) ist der Wächter am Tor (Wiederaufführung demnächst in der Wiener Urania). Er beendet die Zeit der Fingerübungen, die Schule der Geläufigkeit, und leitet die Aera der (bis heute) zehn „Symphonien“ Chaplins ein. Er eröffnet und krönt die große Stummfilmepoche Chaplins und legt das Sprungbrett für die typische Filmkarriere von gestern: des Kindes Jackie Coogan, die meteorhaft aufleuchtet und dann in unrühmlichen Skandalaffären verdämmert.

Die Wiederbegegnung mit dem „Kind“ ist aufregend. Gewiß, ein Musealstück. Länge, Rhythmus, Schnitt, Ausleuchtung, Kostüm und „Ueberspielen“ sind antik. Aber: klassisches Altertum! Die Geschichte von dem Glaserervagabunden (Vagabunden bleiben Chaplins Helden bis zu „Limelight") und dem Findelkind ist ein Armeleutmärchen von treffsicherer Satire, unwiderstehlicher Komik, weisem Humor und unsagbarer Süße. Das Gleichgewicht zwischen Lachen und Weinen ist noch nicht so hellwach ausbalanciert wie in den folgenden drei Filmen: die düsteren Töne schlagen vor. Aber alle Kritik ist noch Märchen, kein Feuilleton wie „Moderne Zeiten", kein Leitartikel wie „Der große Diktator", kein Pamphlet wie „Verdoux". Und alles Murrende, Aufbegehrende, Revolutionäre, das das Londoner Proletenkind in sich herumträgt, ist abgeklärt, versöhnlich und weise. Chaplin lächelt noch (er wird später wettern, bellen, spucken). Noch der Erzfeind seiner Kindheit, der Policeman, trägt komische Züge, und det pessimistische Traum von einem Himmel, In dem geflirtet und . gerauft wird wie nur eh .und je. auf Erden, ist nieht böswillig, eher wehmütig. Coogan, der klassische Filmfratz, ist hinreißend wie nie mehr nachher. Die Wiener Kopie ist erstaunlich gut gezogen. Sie trägt eine stilvolle musikalische Untermalung, die recht witzig mit der Dreigroschenoper kokettiert, und eine Conference in Versen, die Wilhelm Busch Ehre machen würde.

Zu gleicher Zeit trifft aus London die Nachricht ein, daß Chaplins neuester Film, „Ein König in New York", von der angelsächsischen Kritik mit starken Reserven aufgenommen wurde. Das sei nicht mehr

der alte, junge Weise, das sei ein grimmiger, bösartiger Rachevogel. Humor steche mit Nadeln oder Florettspitzen, hier aber werde mit Hammer und Prügel zugeschlagen. Von unten nach oben, von Ost nach West, aus dem Exil der Heimat ins verlorene Paradies der Wahlheimat

Wir aber erleben in diesen Tagen ein holdes, letztes Märchen: „The Kid." Wohl uns, daß uns das Kind, der Traum- davon, erhalten blieb. Weh uns, daß es zum Manne wurde!

Es wäre nicht fair, an „The Kid“ (Shakespeare und Grimm zugleich) zwei Lustspiele unserer Tage zu messen. „Sieben Jahre Pech“, eine Komik in Hemdärmeln und Unterhosen, schon einmal mit dem klassischen „Spiegeltrick" garniert, ist wieder da, ebenso die „13 Stühle“ unter neuem Namen: „Das Glück liegt auf der.Straße“, Eine jede Zeit hat ihr Lachen. Seien wir nicht undankbar: Wir haben schon häßlicher und hohler gelacht als hier.

Auch „London ruftNordpol" ist nicht der schlimmste unter den Modespionen unserer Tage. Er zeigt sogar Ansätze zu einer „Idee": der Mensch zwischen den Mühlsteinen des Apparats.

Zwei Reprisen runden das Programm. Lubitschs leichter, lockerer „Geburtstag“ und Autants aufwühlender „Teufel im Leib“; beides ästhetische Finessen mit bedenklicher moralischer Haltung.

Ein genußreicher Amateurfilmabend versammelte dieser Tage den imposanten Freundeskreis des Schriftstellers, „Furche“-Korrespondenten und Weltreiseheimkehrers Dr. Emilio v. Hofmannsthal in der Wiener Nationalbibliothek. Zwischen ostasiatische, australische, nahöstliche und afrikanische Exotika schob sich überraschend ein kostbares heimisches Intermezzo: Unikate aus Großösterreichs letztem Jahrzehnt mit selten gesehenen Episoden aus dem Leben der beiden letzten Kaiser: schmale Stummfilmchen, aber laut und eindringlich redende Dokumente.

F i 1 m s c h a u (Gutachten der Katholischen Filmkommission für Oesterreich), Nr. 3 8, vom 21. September 1957:' II (Für alle zulässig): „Phantom des Ozeans" — III (Für Erwachsene und reifere Jugend): „Dorf in der Heimat“, „Das Glück liegt auf der Straße“, „Stresemann“ — IV (Für Erwachsene): „Das einfache Mädchen“, „Fliegende Hufe“, „Sieben Jahre Pech", „Vater, unser bestes Stück“, „Zustände wie im Paradies“ — IV a (Für Erwachsene mit Vorbehalt): „Die oberen Zehntausend“.

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