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Den Staat erziehen

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EIN NARR FÜR JEDE STADT. Roman von Ota Filip. Aus dem Tschechischen von Josefine Spitzer. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 249 Seiten, DM 18.—.

Dieses Buch hat nur mittelbar mit jenen aktuellen Geschehnissen in der Tschechoslowakei zu tun, wie sie in einer Unzahl von Tatsachenberichten festgehalten wurden. Büchern wie diesem ist gemeinsam, daß sie Privates mit dem übermächtig Geschichtlichen konfrontieren; daß sie das Recht des einzelnen auf sein eigenes Leben verteidigen, auf seine Irrtümer und Träume, seine Trauer und Resignation, seinen Egoismus und seinen Horror vor dem Schrecken. Sie zeigen den Weg der tschechischen Literatur, der von der Entpersönlichung zu einer wiedergewonnenen souveränen Einstellung zur Wirklichkeit führt. Ihre Autoren sind mißtrauisch gegenüber den Tatsachen, denn die Zeit hat sie gelehrt, daß es auf das Verstehen, die Auslegung der Fakten ankommt. Sie halten offensichtlich auch nichts van dem offiziellen Grundsatz, daß ein Buch zu schreiben und eine Tonne Stahl zu kochen demselben Imperativ unterliege: dem Dienst am Staate. Diese Bücher wollen das ungeheuerliche Versagen des Menschen in der Zeit des Stalinismus ergründen. Der Ostrauer Ota Filip (Jahrgang 1930) hat einen bewegten Lebenslauf: Ausschluß aus der Partei, ein Jahr nachdem er eingetreten war, später zweimal zu Zwangsarbeit verurteilt, in verschiedenen Berufen,

auch manuellen, tätig, zuletzt als Verlagslektor. Ende August wurde er in Mährisch-Ostrau verhaftet. In seinem ersten Roman Das Cafe an der Straße zum Friedhof erzählte Filip die Lebensgeschichte eines Knaben, die sich zur Geschichte seines Volkes während der deutschen Okkupation ausweitete. Sein zweiter jetzt vorliegender Roman Ein Narr für jede Stadt bricht noch radikaler mit dem realistischen Schema. Das Buch ist ein Monolog, in welchem der Autor dem unsichtbaren Leser auseinandersetzt, wie er die Geschichte seiner Hauptfigur, des Lehrers Jan Gajdos, zu erzählen gedenkt. Gajdoä ist heimgekehrt, nachdem er acht Jahre im Straflager verbracht hat, die er einem Jugendfreund, einem rücksichtslosen Streber, verdankt. Aber er findet sich auch jetzt in seiner Umwelt, die ihn für verrückt hält, nicht zurecht; er vermag nicht den Beweis zu erbringen, daß er würdig ist, „die junge sozialistische Generation zu erziehen“. Im Grunde genommen, meint der Autor, der sich mit seiner Hauptfigur wohl bis zum Autobiographischen identifiziert, „gibt es auf der Welt keinen Staat, der fähig wäre, irgend jemanden zu erziehen ... Die Erziehung müßte umgekehrt erfolgen: Die Menschen sollten sich ihren Staat erziehen“. Vergebens nimmt Gajdoä die Rolle eines Narren auf sich, die Rache für die Untreue seiner Frau mißglückt, der Ausbruch aus der Gesellschaft endet nur in neuer Unfreiheit.

Der Autor schildert die Handlungsabläufe nicht so, wie sie sich „not-

wendigerweise“ abspielen müßten, sondern hält „für die unberechenbaren Sprünge der Phantasie“ zahlreiche Variationsmöglichkeiten bereit. Immer wieder erwägt und verwirft er und wählt schließlich aus den vielen angenommenen Geschehnissen gerade jenes aus, das ihm „im Hinblick auf die Gesamtkonzeption am besten entspricht“.

Auf die Dauer freilich hält die Erzählweise des Erzfabulierers Ota Filip nicht stand und frühestens im letzten Drittel des Buches wirkt sie bereits stereotyp. Der bisweilen von Trauer und Melancholie überschattete Humor und die Ironie, die den Roman durchziehen, wandeln sich am Ende in satirische Schärfe, ja zur Grimasse. Trotzdem bleibt auch dieser zweite Roman ein beachtliches Buch. Seine geistige Verwandtschaft mit Kunderas „Scherz“, selbst eine bis in die Details gehende Parallelität der Handlung sind nicht zu übersehen. Kunderas ironische Distanz zu den Dingen und sein Stil schufen allerdings ein ausgewogeneres Werk. Aber der „Scherz“, das Lächerliche als Lebensprinzip fand in Ota Filips „Narren'*, den es, wie er selbst meint, „in jeder Stadt“ als Regulativ gegen den erstarrenden politischen Mechanismus geben sollte, eine durchaus originelle Verkörperung.

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