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„Depravation des europäischen Geistes?“

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„Durch die Zeitungen gehen Nachrichten über eine Wiedereinführung der Sklaverei“ — mit diesen Worten begann Gerhart Hauptmann im „Berliner Tageblatt“ vom 2. Februar 1919 einen berühmt gewordenen „Offenen Brief an den Kongreß der Alliierten in Paris“. Diese Kundgebung eines großen Dichters war ausgelöst worden durch die Nachricht, Frankreich beabsichtige für Wiederaufbauarbeiten in kriegszerstörten Gebieten. 800.000 deutsche und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene zurückzuhalten. Der Dichter der jungen Weimarer Republik lehnte sich mit dem , ganzen Gewicht seines Namens gegen die „Ungeheuerlichkeit“ auf. „800.000 Christensklaven, meine Brüder ...“ „Märtyrer“, „geknechtete Halbtiere, viel schlimmer noch ajls die Juden zu Pharaos Zeit“ schienen ijim die Unglückseligen. Mit den bittersten Worten geißelte er die „Depravation des europäischen Geistes“, die sich in dieser Haltung „grausamster Pharaonenmoral“ einer früher führenden Kulturnation des Abendlandes offenbare.

Der greise Dichter hat die gleiche Schärfe des Verdammens vermissen lassen, als Hitlerdeutschland während des Krieges Millionen von Ausländern zum Arbeitsdienst in Deutschland zwang. Es soll mit ihm nach seinem Tode darob nicht gerechtet werden. Er mag an das Märchen der Freiwilligkeit geglaubt haben, das die. Propaganda des Dritten Reiches servierte; daran, daß „Ostarbeiter“ aus zivilisatorisch rückständigen Gebieten unter dem sozialen Arbeitsschutz des Reiches nur gewinnen und ihre Lebenshaltung angeblich nur verbessern konnten. Es wird für immer ein warnendes Zeichen für das Schuldbarwerden einer lügenhaften Propaganda sein, daß viele dieser Irreführung verfielen and so die große Kollektivschuld entstehen ließen, mit deren Abbür-dung heute Deutschland ringt. Erst nach der Befreiung vom Alpdruck der Göbbels-propaganda haben die Deutschen erfahren,1 daß es sich — sozialer Fortschritt hin oder her — um „Arbeitssklaven“ gehandelt hat.

Das hat unter anderem das Urteil im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß mit drastischen Worten ausgesprochen. Es hat die „Depravation des europäischen Geistes“ nicht weniger scharf' an den Pranger gestellt, als vor einem Vierteljahrhundert der Dichter der „Weber“. Hat es genützt? Auf einer Eingabe des Berliner Stadtrates an die Besatzungsmächte erfahren wir, daß noch rund vier Millionen deutsche Kriegsgefangene zu Arbeitszwecken im Westen und Osten zurückbehalten werden; nach Hunderttausenden zählen die nicht zurückgekehrten Österreicher, nach Millionen die “zivilen Arbeitskräfte, die vor allem in .den ehemaligen Satellitenstaaten Deutschlands, teils in den eigenen Ländern zum Teil weit entfernt von ihren Heimstätten, zum Wiederaufbau der Fremde gezwungen sind. Ein Meer von Leid und Tränen überschwemmt nach längst beendetem Krieg europäische Gefilde.

Wejnn das bestehende Ele.ncT in seinem ganzen, erschütternden Ausmaß gleich nur von wenigen gekannt wird, läßt sich doch nicht sagen, daß die Welt dazu schwiege oder es widerspruchslos zur Kenntnis nähme. Bezeichnenderweise sind es jetzt die gleichen Instanzen, die es zur Sprache bringen, wie in Hitlers Maientagen, vor allem kirchliche Körperschaften und Männer, vom Gewissen der Welt, dem Haupt der Christenheit, angefangen bis zum kleinen Dorfkaplan hinunter, der aus der Verbundenheit mit dem Alltagsleben des Volkes heraus dessen Sorgen am besten kennt. Vor jkurzem hat auch der ungarische Fürstprimas, Kardinal Mindszenthy, einen • Hauptmanns „Offenem Brief“ nicht unähnlidien Schriftsatt im Weg der Budapester

Französischen Gesandtschaft an das „Präsidium der Friedenskonferenz“ gerichtet. Es heißt darin unter anderem: „Während die Ordner der Geschicke der Menschheit tagen, werden noch hunderttausende Menschen vom Lauf der Donau in todbringender Kälte deportiert und, herausgerissen aus ihrer selbständigen Existenz, zu Sklaven erniedrigt, während die Instinkt; hemmungslosester Verfolgungssucht über die primitivsten Menschenrechte triumphieren.“

Sicherlich schwebte dem Kardinal, der während der ungarischen Faschistenzeit schwerste Verfolgungen zu erdulden hatte, bei dieser Schilderung zunächst das Schicksal eigener Volksgenossen vor Augen. Mit nicht . geringerer Mannhaftigkeit hat aber der gleiche Kirchenfürst seine Stimme gegen die Landesverweisungen und den Arbeitslagerzwang der ungarländischen „Schwaben“ erhoben, deren Aussiedlung und Vernichtung er in mehreren Hirtenbriefen als einen verhängnisvollen Mißgriff für das eigene Volk und Land bezeichnete. „Wir säen Wind und werden Sturm ernten!“ rief er den seines Erachtens verblendeten, den Geist der Christlichkeit und wahren Europäertums verleugnenden, Machthabern de Tages warnend zu.

Man wende nicht ein, solchen Demonstrationen komme nur platonischer Wert zu, die tristen Tatsachen würden durch sie nicht aus der Welt geschafft. Sittliche Erkrankungen der Menschheit haben einen langsamen Heilungsprozeß. Er beginnt damit, daß richtige Diagnosen gestellt und ohne Scheu ausgesprochen werden Das tat vor einem Vierteljahrhundert Gerhart Hauptmann, als er die „Depravation des europäischen Geistes“ beklagte. Die Frage, die er aufwarf, und. seine Antwort gelten heute noch wie damals: „Zwangsarbeit sei nicht Sklaverei? Sie ist Sklaverei!“

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