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Der Friede von Cella

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Das bisher unbekannte, in den Bergen des ligurischen Apennins liegende Dörfchen Cella di Bobbio hat es ausschließlich der Initiative seines jungen Pfarrers, Don Adamo Accosa, zu verdanken, wenn es in Zukunft mit drei Sternen in den Handbüchern für Italienreisende verzeichnet wird. Es besitzt eine so eigenartige Kirche, wie es keine andere auf der Welt gibt. Dieses katholische Gotteshaus ist plötzlich in den Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt.

So merkwürdig wie das Baumaterial ist auch die Entstehungsgeschichte dieser Kirche. In den Bergen, die die Provinzen Pavia und Piacenza voneinander trennen, sind Erdbewegungen keine Seltenheit. Als vor Jahren in der kleinen Ortschaft Cella das Gotteshaus infolge Senkung des Geländes plötzlich wie ein Kartenhaus einstürzte, war es ein bitterböser Schlag für die Gemeinde und ihrem jungen Pfarrer. Aber während Don Accosa. noch in den Trümmern wühlte, um zu retten, was sich noch zu bergen lohnte, faßte er bereits den Entschluß zur Wiedererrichtung der Kirche. Es mangelte ihm weder an Tatkraft noch an Unternehmungsgeist — nur an Geld. Die Bewohner des armseligen Bergdörfleins hatten kaum genügend zu essen. Wie sollte er das finanzielle Problem lösen?

Don Accosa verlor nicht den Mut. Sein altes Lieblingsprojekt, ein „Tempel der Verbrüderung“, schwebte, ihm mit einem Male wieder vor Augen. Die Inspiration dazu gab ihm ein tragisches Erlebnis im letzten Krieg. Als Militärkaplan war ihm eines Tages die traurige Pflicht zugefallen, einem amerikanischen Heeresangehörigen, der wegen eines argen Vergebens vom Kriegsgericht zum Tod verurteilt worden war, in seiner letzten Stunde tröstend beizustehen. Es handelte sich um einen Neger. Wahrscheinlich hatte ihm das schreckliche Frontgeschehen die Sinne verwirrt, als er sich gegen die Disziplin verging. Der Vollzug der Todesstrafe sollte ein Exempel für die Truppe sein.

Der Neger gehörte nicht dem katholischen Glauben an, aber es war kein anderer Priester erreichbar gewesen. Als ihn Don Accosa in gebrochenem Englisch auf den Tod vorbereitete, rief der Aermste wie ein Kind in größteT Not gellend nach der Mutter. Der Priester nahm ihn in die Arme und weinte mit ihm. Grauenvoller denn je empfand er den Widersinn des Krieges. Wieviel Blut mußte noch verströmen, bis die Menschheit endlich Vernunft annahm! Wie oft würde sich in der Weltgeschichte dieses Drama noch wiederholen.

An der Brust des mitfühlenden Priesters löste sich die quälende Todesangst des Negers. Langsam sagte ihm Don Accosa die Sterbegebete vor. Silbe für Silbe wiederholte der andere jedes Wort, bis er den Sinn erfaßte. Als er den letzten Gang antrat, überkam ihn eine seltsame Ruhe. Er küßte das gereichte Kreuz und wies zum Himmel: „Ich bin nur ein Schwarzer ... aber wenn mich Gott aufnimmt, will ich bitten, daß Friede wird... daß sich die Menschen nicht mehr töten...“

Diese Episode, die Don Accosa zutiefst erschütterte, weckte damals spontan in ihm den Vorsatz, alle Zeit und Kraft, die ihm sein Priesteramt ließ, der Sache des Völkerfriedens zu widmen. Es schwebte ihm der Bau einer Kirche vor, die in unübersehbar eindrucksvoller Gestaltung jeden Menschen ins Herz sprechen müßte: „Vor Gott sind, wir alle Brüder!“ Doch schon bald mußte er das Mißverhältnis zwischen Wollen und Können erfahren. Auch den lauter^ sten Absichten sind Schranken gesetzt. Als er die Seelsorge der kleinen Gemeinde Cella übernahm, bereitete ihm die Sorge um die, Erhaltung1 der alten Dorfkirche allein schon schlaflose Nächte.

Und dann kam der Tag, an dem Don Accosa vor den Trümmern des eingestürzten Gotteshauses stand. Ein paar verbeulte Kerzenleuchter waren alles, was übriggeblieben. Da lebte plötzlich der „Tempel der Verbrüderung“ wieder in ihm auf. „Jetzt oder nie!“ sagte er sich. „Hier an dieser Stelle will ich ihn bauen.“ Es war zwar keine prunkvolle Kathedrale mehr, die ihm vor Augen schwebte, aber immerhin eine Kirche, die weit über die kleine Gemeinde hinaus von besonderer Bedeutung sein sollte.

Wie gesagt, besaß Don Accosa nicht eine Lira. Da erinnerte er sich, gelesen zu haben, wie in Paris ein von glühender Nächstenliebe beseelter Priester, trotz seiner Mittellosigkeit Wunderwerke praktischen Christentums vollbrachte. Mit gleichgesinnten Idealisten klopfte er so lange an die Türen der Reichen, bis er für hunderte Obdachlose, die sonst unter den Brük-kenbogen der Seine nächtigten, menschenwürdige Heime bauen konnte. In Paris konnte er lernen. Diese Idealisten hatten sicher Verständnis für seinen Plan und würden ihn beraten. Von ihrem unbeugsamen Willen konnte er profitieren.

Der junge Enthusiast verkaufte die paar Habseligkeiten, die sein privates Eigentum waren, und als er den Erlös zählte, reichte es genau für eine Fahrkarte zur französischen Metropole. Sein Reisegepäck war eine Pappschachtel. Sie enthielt ein Brevier, ein sauberes Hemd, einige Brotschnitten und ein Stück Cellaer Schafkäse. Das war alles, was Don Accosa noch besaß.

Don Accosa fand in Paris Verständnis. Er kam mit vielen prominenten Persönlichkeiten in Verbindung. Was sie ihm rieten und wie weit ihm vermögende Förderer fürs erste finanziell unter die Arme griffen, wissen wir nicht. Aber als der junge Priester in die Berge des liguri-schen Apennins zurückkehrte, war er voll froher Hoffnungen.

Ab diesem Tag bekam der Postbote in Cella viel zu tun. Der Pfarrer des kleinen Dorfes korrespondierte mit der ganzen Welt. Unzählige Briefe mit ungewöhnlichen Adressen mußten expediert werden. Don Accosa schrieb an die weltlichen und kirchlichen Behörden (auch anderer Konfessionen) aller kriegsverwüsteten Städte. Ueberau, wo Bomben und Granaten blühendes Leben vernichtet und friedliche Wohnstätten in rauchende Schutthaufen verwandelt hatten, trafen Briefe von Don Accosa ein. Schlicht schilderte der junge Priester sein Vorhaben, in Cella einen „Tempel der Verbrüderung“ zu bauen. Er bat um Unterstützung. Alle Völker sollten sich beteiligen,

Welche Unterstützung Don Accosa meinte? Das zeigte sich sehr. bald. Als sich die Staatspolizei in Pavia und Piacenza für die rege Auslandskorrespondenz des kleinen Landpfarrers zu interessieren begann, trafen bereits die ersten gewichtigen Pakete und Kisten ein. Ihre Anzahl erhöhte sich von Tag zu Tag und brachte die Post zur Verzweiflung. Oft waren es bis zu dreihundert Sendungen, die gemäß ordentlicher Frankierung „An Don Adamo Accosa, Pfarrer von Cella di Bobbio“ zugestellt werden mußten. > Diese Pakete und Kisten enthielten weder Geld noch Perlen, auch keine Wertgegenstände, sondern Trümmerstücke von Kirchen und Palästen, Ueberreste des Bombenkrieges, . Fragmente geborstener Säulen, Splitter zerschellter Fliesen, Reste zerbrochener Marmorstatuen, Bruchstücke von Gesimsen. Oft war es auch nur ein rauchgeschwärzter Ziegelstein. „Don Accosa hat den Verstand verloren“, murmelte man in Pavia und Piacenza.

In Cella dampfte der Kalk. Freiwillige Helfer, vom Erdarbeiter bis zum Baumeister, arbeiteten mit einer Begeisterung ohnegleichen. Allen voran mit aufgerollten Aermeln Don Accosa. Noch nie wuchs im ligurischen Apennin so schnell eine Kirche aus dem Boden. Und was für eine Kirche!

Eines Tages kam eine besonders schwere Kiste. Acht Mann mußten anfassen, um sie abzuladen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde: „Ein offizielles Geschenk Admirals Gastone Menotti!“ Es war der Tabernakel für die neue Kirche — aus der Stahlhülle eines Bombenblindgängers gearbeitet.

Der „Tempel der Brüderlichkeit“ steht bereits, wenn auch noch nicht ganz vollendet, dazu bedarf es noch geraumer Zeit. Don Accosa ist glücklich: er schenkte einem kleinen entlegenen Bergdorf eine Kirche, die bald in der ganzen Welt durch Presse und Rundfunk bekannt sein wird. Ein erschütterndes Mahnmal für die Verbrüderung aller Völker. Jeder Baustein spricht eine eindringliche Sprache: Nürnberg ... Dresden... Wien... Reims... Lohdon ... Hiroshima ... Nagasaki...

Aus allen Ländern werden Delegationen kommen, um in dieser Kirche gemeinsam für die Erhaltung des Weltfriedens zu beten.

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