6714498-1964_36_11.jpg
Digital In Arbeit

Der Rückblick des Einzelnen

Werbung
Werbung
Werbung

MATURAJAHRGANG 1907.’’ Roman. Von Otto Friedlaender. Verlas Styria, Graz- Wien-Köln, 1964. 633 Seiten. Preis 155 S.

Wer einen spannenden Roman lesen will, der wird nicht zu diesem Buch greifen. Das ist es nicht — denn es ist viel mehr. Es ist (in Form eines Romans) ein überaus klug beobachtetes, fein empfundenes, reich nuanciert dargestelltes Zeitbild, ein nachdenklicher Rückblick auf mehr als ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte aus der Perspektive des allerpersönlichsten Miterlebens des — man möchte sagen: unschuldigen — keineswegs mithandelnden, sondern die Zeit erleidenden einzelnen. Alles, was die Älteren unter uns noch selbst miterlebt haben, zieht da an unseren Augen vorbei. Der letzte Glanz der nach außen noch gesichert und ruhig scheinenden, aber schon von Wolken und Wetterzeichen bedrohten ersten Vorkriegszeit, der erste Weltkrieg und die graue, aussichtslose Öde nach ihm, die Nervosität der vom inneren Kampfe erschütterten dreißiger Jahre, die Sturzwelle des Anschlusses, zweiter Weltkrieg, Russenzeit, Hunger, Not und Mühe des Wiederanknüpfens an die Vergangenheit —, das alles wird aus der Perspektive des oft in den Konflikten und Problemen der Zeit vor ausweglosen Dilemmas stehenden, umsonst nach der Ruhe des Sichzu- rückziehens auf die private Sphäre strebenden einzelnen dargestellt, mit all den kleinen, teils humorvoll, teils bitter, immer aber treffend und geistreich beobachteten Zügen, die dem Ganzen eine unvergleichliche Gefühlsnähe geben.

Der Rahmen, in dem diese scheinbar zerfließende Vielfalt der Einzelzüge und Tageserlebnisse eingefaßt ist, sind zwei Maturafeiern der Schüler eines oberösterreichischen Stiftsgymnasiums: die dreißigste — im Jahre 1937 — und die vierzigste — im Jahre 1947 — und was dazwischen und davor liegt; hier wird, nach dem Einsetzen mit dem ersten Treffen im Jahre 1937, bis in die Jugend der nach langer Trennung etwa6 scheu und unvertraut Wiederversammelten, ja bis in die Vätergeneration und in die Grundlagen ihrer Lebenssituation „zurückgeblendet”. Die Verschlingungen und Wandlungen der verschiedenen Lebenswege, die vielfältigen Wendungen, mit denen (nicht immer in der charaktervollsten Weise) die einzelnen den Umschwüngen der Zeit begegnet sind, führen uns, in allen möglichen Variationen, Selbsterlebtes und mit Verwunderung Selbstbeobachtetes vor Augen, das ebenso zum Gesamtbild dieser Zeit gehört wie die großen Phrasen und Schlagworte, deren Widerhall im mißtrauisch-besorgten Ohr des Zeitgenossen wir hier nochmals nachempfinden.

Die ganz besondere individuell® Perspektive, aus der heraus das Geschehen erlebt wird, läßt in nachdenklicher Weise eine ganze Reihe von Problemen vor unserem Geiste auftauchen, die zur Struktur dieser ersten Vorkriegszeit gehörten, und deren Akutwerden dann die Konflikte der folgenden Zeit mitbedingt hat: Der Halbjude der älteren Generation, der sich seelisch und geistig nicht mehr dem Judentum verbunden fühlt, aber auch (so sehr er seine Existenz von der durch sie gewährleisteten Ordnung bedingt weiß) nicht ganz den inneren Anschluß an die Mächte des Beharrens gefunden hat, sondern (im besten Glauben, damit dem „Fortschritt” und dem Liberalismus zu dienen) das Großdeutschtum fördert, das nicht nur seinen Lebensrahmen sprengt, sondern sich bedrohend sogar gegen ihn selbst wendet — das ist, in einem ganz individuell und porträthaft gezeichneten Bilde, eine so vorzügliche Formulierung der Problemträchtigkeit dieser, alles Spätere vorbereitenden, in sich zwiespältigen Geistigkeit, wie man sie treffender kaum je irgendwo lesen, und gewiß in Form einer abstrakten Analyse niemals so deutlich darstellen könnte. Und das ist nur einer der vielen Aspekte, aus denen die Zeit beleuchtet wird. So entsteht ein erlebtes Zeitdokument, das in seiner geschauten und empfundenen Unmittelbarkeit, wenn auch nur aus einem bestimmten Blickwinkel heraus gesehen, an dessen Horizont aber alle wesentlichen Kräfte dieser Zeit auftauchen, gewiß noch einen großen Wert als Zeugnis und Aussage über die Probleme dieser Zeit behalten wird, wenn die, die sie miterlebt haben, schon längst dahingegangen sein werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung