Amsterdam Mühle - © Foto: pixabay

Der Schock, Schuld auf sich geladen zu haben

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Anton Thuswaldner schreibt in der Rubrik "Wiedergelesen" über "Der Fall", den Roman von Albert Camus.

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Anton Thuswaldner schreibt in der Rubrik "Wiedergelesen" über "Der Fall", den Roman von Albert Camus.

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Als im Mai 1956 Albert Camus' Roman „Der Fall“ erschien, war der Autor bereits ein gefragter Intellektueller und eine anerkannte Persönlichkeit, die Einfluss auf die Gesellschaft hatte. Ein Jahr später erhielt er den Nobelpreis für Literatur, im Jänner 1960 kam er bei einem Autounfall ums Leben. So ist der Roman als eine Art provisorischer Schlussstein eines unabgeschlossenen Werkes zu sehen. Camus arbeitete ja nicht Buch für Buch ab, sondern dachte in großen Dimensionen von Zyklen, die in verschiedenen literarischen Genres menschliche Verhältnisse ergründen sollten. Der dritte Zyklus, der ihn zuletzt beschäftigte, sollte dem modernen Menschen seine Maßlosigkeit vor Augen führen, deren Folgen unabsehbare Verwüstungen des Planeten und der Seelen bedeuten würden. Jean-Baptiste Clamence kann als Anwalt auf eine außergewöhnliche Karriere zurückblicken. Im Amsterdamer Hafenviertel, wo er in einer Bar in einem monströsen Monolog Rechenschaft über seine Versäumnisse ablegt, erhebt er dennoch ungerührt Selbstanklage. Das ist einer der Schlüsseltexte des Existenzialismus, der ungeschützt vom Drama des Menschseins berichtet und wenig Anlass zur Hoffnung bietet. Dabei hätte Clamence allen Grund von einem geglückten Leben zu erzählen. Als Anwalt hatte er Erfolg, er hatte stets im Sinn, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, er war im Reinen mit sich und der Welt und genoss sein Leben. Unvermutet kommt jener Moment, der ihn ins Taumeln versetzt und nachhaltig verstört. Als er auf der Brücke ein Lachen vernimmt, das aus dem Nichts zu kommen scheint, vermeint er, dass sein anderes Ich höhnisch auf das scheinbar so untadelige Leben blickt. Einmal zur Selbsterkenntnis angestiftet, erkennt er all die Mängel, die ihm erst jetzt schrecklich bewusst werden. Ein Leben, ohne anderen Verletzungen zugefügt zu haben, ist nicht zu kriegen. Das muss einer erst einmal aushalten. Clamence ist nicht gläubig, deshalb akzeptiert er keinen Gott, vor dem er seine Sünden bekennen müsste. Also sieht er sich dazu gezwungen, als Ankläger in eigener Sache tätig zu werden. Dass Religion in seinem Leben keine Rolle spielt, hindert ihn nicht daran, sich mit deren großen Themen ‒ Schuld, Gnade, Sühne und Erlösung ‒ zu beschäftigen. Es geht um das Ende der Selbstgerechtigkeit, die einen erfolgsgewöhnten Charakter so leicht heimsucht. So subjektiv diese Abrechnung auch immer gehalten ist, Camus geht es um den modernen Menschen, den er nicht aus seiner Verantwortung entlassen will. Grete Osterwald hat dieses harte Stück Literatur neu übersetzt und in eine flüssige Sprache gebracht. Solch einen Roman benötigen wir dringend für unsere Gegenwart, in der Selbstkritik guttut. Um große Literatur handelt es sich dabei sowieso.

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