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Der unausschöpfbare Brunnen

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Soll man es glauben? Die Krisen werden abgefangen, immer ist Konjunktur, die Not — vielleicht sogar das Schicksal — ist abgeschafft.

Wir treten mit dem Bauwesen in eine neue Gründerzeit ein oder sind bereits mitten drin. Die Zeit ist vorbei, da die alten Hofräte hungerten und den Staat zusammenhielten. Eine allgemeine Jagd auf die Staatsmittel ist im Gange und es könnte sein, daß wir uns übernehmen, wenn wir sie zu stoppen nicht imstande sind. Ist der Brunnen unversieglich? Braucht man nur immer schneller zu pumpen und fließt dann die Arbeitskraft immer schneller nach? Die Alten fröstelt's vor soviel Glücki

Wer kann, breitet sich aus: Die Wohnviertel, die Industrien, die Schulen, die Verwaltungen, die Reiselust, die Autos, die Zahl der Sekretäre, die jeder Prokurist als unumgänglich notwendig erklärt. Heute sieht es so aus, als bedürfe es nur des Optimismus, und alles: das Amt und seine Bedeutung, die Freizeit und die Diäten, tröpfelnd später auch das Einkommen, wird doppelt so groß. Bei solcher Konjunktur, solchen Ueber-schüssen, gibt es ein Tischleindeckdich in Permanenz, und Schopenhauer steht sehr ärgerlich da mit seiner „Verruchtheit des Optimismus“. Aber die Alten sind des Polykrates Gastfreunde.

Da und dort sind Grenzen sichtbar, die der Hybris Verlegenheit bereiten: Die Bauten gehen langsam, das Halbfertige frißt pro Jahr zehn Prozent Zinsen. Die Wohnungszahl steigt und stillt doch nicht das Bedürfnis. Es ist wie mit der maschinell betriebenen Pillendreherei, die nur eine Schicht, jedoch nie die Bedürftigkeit erreicht. Die Macht der Organisation ist majestätisch. Aber die Löhne der von ihr Betreuten sind keineswegs in dem Maße höher, als die Zweigstellen im Telephonbuch sich vermehrten. Und wie die Autos, hat auch der Wohnbau nicht so sehr den Jungborn der Natur nähergerückt als das Kolonnesein hinter Vordermanns Auspuff. Auf dem architektonischen Teilgebiet sind die Kongresse weniger zahlreich und ruhmredig. Noch vorgestern versprachen die Schönredner die kleine Villa mit dem Marillenbaum und die Abschaffung der Sechsstockblöcke. Heute erscheint eher das Gigantische — Hochhaus, Stauwehr, Straßenband — zur Faszination tauglich. Aber: „Was auch die Könige tun, die Achäer müssen herhalten.“ — „Das kleine Glück dem kleinen Mann zu zeigen, macht ihn unwillig zur großen Tat“ — so ähnlich las man es vor 2000 bzw. vor 25 Jahren. Und es kommt uns in den Silin, daß Maximalismus, synonym mit Bolschewismus, die einfache Uebersetzung ins Russische ist. Auch auf der westlich-wirtschaftlichen Seite gibt es keine Menschewiken mehr.

Merkwürdig ist in der Gigantomachie das gleichbleibende Mißverhältnis von Wollen und Können. Im psychologischen wie im sozialen Bereich. Die Leute sind auf höherer Ebene, in der Zwei- statt der Einzimmerwohnung, genau so wenig glücklich und genau so unzufrieden. Sie haben mehr Geld. Aber nicht annähernd so viel als die, die „dabei“ sind. Für alle psychologischen Fakta, für die Zufriedenheit zum Beispiel, scheint es wie in der Kunst nur auf die Proportion, nur auf das Dabei oder Daneben, nicht auf die höhere oder tiefere Ebene anzukommen. Das Verhältnis wird durch den Neid gemessen.

Das Leben wird gelebt und durch die konstatierende Klugheit nicht geändert. Was kann der Mahner tun? Er kann theoretisch daran erinnern, daß es keineswegs sicher ist, daß Fortuna uns auch jedes weitere Produktivitätsjahr um zehn Prozent breiter lächelt. Er kann zu bedenken geben, daß es eine weniger gefährliche Propaganda gibt, als diesen ewigen Sekretärsoptimismus. Heute hören wir nur die, welche vorwärtstreiben. Warum sind jene, die zum Halten da sind, so stumm? Die großen Industrien, die Anleihen auflegen, werben durch -wirkliche oder scheinbare — Redlichkeit. Sie veröffentlichen die Bilanzen. Wäre es für den politischen Zweck nicht tauglicher, wenn man die Bilanz der Bautätigkeiten klarlegt? Was kostet eine Wohnung, was ein Krankenbett, was der Schreibtisch im Verwaltungsgebäude, wenn man die Gesamtkosten, die Straßen, Verkehrsmittel, die ' Gehälter der Konwollinstanzen mit einrechnet? Aber wie bei den Erzeuger- und Verbraucherpreisen im Nahrungssektor erfährt man keine einigermaßen deutliche Preisanalyse. In unserer verpolitisierten Zeit erscheint es dem Auguren zum Lachen, den Weg der Klarheit auch nur zu denken, wenn er weiß, daß der Gegner goldene Uhren verspricht. - Die große Clarte gibt es nur im wissenschaftlichen Bereich. Der Machtbereich ist ein einziges Dunstmeer. Man kennt die Motive nicht und nicht die Resultate und soll dennoch wählen. Grimmige ideologische Feindschaften werden in der Zeitung ausgetragen, ohne daß der eigentliche Interessengegensatz aufgedeckt würde.

Da ist zum Beispiel die nicht endende Polemik der Flachsiedler gegen die Hochhäuser. Selbstverständlich haben beide recht. Die, die Idylle wollen, und auch die, welche wissen, daß in der Großstadt das Drama, nicht das Bukolische Platz hat. Hört man von den Grünlandpropheten auch nur ein Wort über die Nachteile an Heizung und Verkehrskosten? Hat anderseits die Hochhausbegeisterung auf die technisch unbedingt nötige Vervollkommnung der Energieversorgung, Parkflächen usw. gedrungen? Hat jemand vorgerechnet, wieviel an Elendsvierteln unsaniert bleiben muß, damit die Glücklicheren Ozon im Uebermaß erhalten?

Alle diese Fragen illustrieren nichts anderes, als daß die Rechte nkht weiß, was die Linke tut, und daß man sich mangels einer übergeordneten Verantwortung darauf verläßt, daß der

Staat die Fehlleitung durch Zuschüsse austariert. Ein Markt der Grundstücke, der Wohnungstypen, der die Auslese besorgte, existiert nicht, und so laufen die an und für sich großartigen Planungsgedanken allesamt in die Richtung des unversieglichen Brunnens. Man verläßt sich auf den großen Bruder, und dieser bürokratisiert das Bauwesen und macht die Städte uniform.

Wie gerne wollten die Alten ihren Unglauben abtun und sich für blamiert erklären. Wie gerne wollten sie glauben, daß der Staatsbrunnen unversieglich ist. Vielleicht der tiefste Grund für ihre Skepsis ist der moralisch-ästhetische. Sie meinen, daß der mehr Achtung gewinnt, welcher entsagt, dient und sich bescheidet, als der aus dem Partner Staat das Aeußerste herauspreßt. Auch glauben sie nicht an das Maximalistische, weil die Bauten, die über die Jahrtausende leuchten, zum Beispiel die griechischen oder die frühromanischen, nicht „groß“ waren, sondern im Einklang auch mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die Monsterbauten der Römer tun dies nicht und auch nicht im gleichen Maße der Barock oder gar die Bauten der bayrischen Ludwige. Die Alten meinen, in diesen Bauwerken stecke fast etwas Unsittliches oder zumindest geistig Unkeusches. Aber was tut das zur Sache? Sie sind überspannt, und das schlichte Biedermeier ist sittlich größer ...

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