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Des Filmes „Ilias“ und „Odyssee“

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Vom hohen Olymp herab wird bisweilen die Frage laut, wieso denn der Film noch nicht seinen Homer und Sophokles, seinen Shakespeare und Goethe habe. Eine überaus strenge Frage. Schließt denn nicht schon die schöpferische Oekonomie aus, daß der Film in 60 Jahren jene Gipfel erklimmen konnte, zu denen die abendländische Kultur drei Jahrtausende gebraucht hat? In ein Zeitalter religiöser Skepsis, abgewerteten Heldentums hineingeboren, hätte er am laufenden Band „Edda“ und Nibelungenlied, „Oedipus“, „Hamlet“ und „Faust“ gebären sollen?

In seiner Art hat er sie geboren! Chaplin , und Garbo, Pat und Patachon sind „Weltliteratur“ des Films, und — ist es wirklich so schrecklich zu sagen? — die Spitzenleistungen des „Wildwesters“ tragen unverkennbare Züge eines modernen Nibelungenliedes

Nun hat der Film auch seinen Homer. „Krieg und Frieden", ein italienisch-amerikanischer Film Ponti-di-Laurentiis’ und King Vidors, ist die waffenklirrende Ilias des rilms und seine Odyssee zugleich: die hoffnungslose Irrfahrt der russischen Seele.

Romain Rolland hat schon vor 46 Jahren Tolstois „großartigstes Heldengedicht unserer Zeit“ in unmittelbare Nachbarschaft zu Homer und Goethe gerückt. Nicht nur, weil Tolstoi selbst sich in dieser Zeit nachweisbar mit Ilias und Odyssee in der Ursprache sowie mit Goethes „Hermann und Dorothea" befaßt hat und in Aufzeichnungen 1865 bei der Klassifizierung 'iterarischer Gattungen sein eigenes Werk „1805“ (unter welchem Titel die beiden ersten Teile von „Krieg und Frieden" 1865/66 erschienen) als zur selben Familie gehörig wie die Odyssee und Ilias eingetragen hat. Nein, Rolland schaut noch tiefer: „Eine Welt von Gestalten und Schicksalen lebt darin. Ueber diesem von zahllosen Wogen gepeitschten Meer menschlicher Leidenschaften schwebt eine allbeherrschende Seele, welche die Stürme nach Gefallen entfacht und zügelt.“ Aber weit über das antike Fatum hinaus läßt Tolstoi aus der „schrecklichen Notwendigkeit" der napoleonischen Kriege heraus einen neuen, modernen Schicksalsbegriff aufsteigen: „Der Krieg ist für die Freiheit des Menschen die härteste Form der Unterwerfung unter die göttlichen Gesetze. Die Herzenseinfalt besteht in der Unterwerfung unter den Willen Gottes.“ Diese freiwillige Unterordnung unter das göttliche Wirken steht über dem willen- und wehrlosen Gewimmel der homeri- t; ’ Sehen Helden, auf deren Buckel lediglich launische Götter ihre häuslichen Zwiste austragen. Im'-Zauderer Generalissimus Kutuzov, der, im Gegensatz zu dem aktionsbesessenen, hybriden Napoleon, „etwas Mächtigeres gelten läßt als seinen Willen", noch schöner vielleicht in der demütigen Einfalt des Mu- sebiks Plato Karatajew hat diese moderne Deutung von Mensch und Schicksal, Krieg und Frieden ergreifenden Ausdruck gefunden. Stehen wir ihr heute, nach 90 Jahren, nicht sehr, sehr nahe?

Das ungeheure Gemälde „Krieg und Frieden" war ursprünglich nur als Mittelfeld einer Reihe von epischen Fresken gedacht, auf denen sich die Geschichte Rußlands von Peter dem Großen bis zu den „Dekabristen“ abspielen sollte (jenen Dezember- Aufständischen“ von 1825, jungen Adeligen, Gardeoffizieren und Intelligenzlern, deren hoffnungslose tapfere Tat manche Züge gleicher Helden unserer Tage trägt...). Aber der Stoff wuchs Tolstoi über den Kppf. Im Vollsaft der Männlichkeit und Schöpfungskraft stehend, im Honigmond der ersten ungetrübten Jahre der Ehe mit Sophia Behrs, unbelastet noch von den unbeschreiblichen Qualen der religiösen Krise von 1879, schleuderte Tolstoi förmlich (ebenso wie knapp später das zweite Meisterwerk „Anna Karenina“) die Gestalten und Begebenheiten aus sich , heraus, einen ungeheuren Bogen spannend vom Vorabend des Krieges, der sich in hundert Seiten des Werkes, in der ganzen Hohlheit der russischen Gesellschaft („dieser Kinder der Welt“) spiegelt, über Austerlitz, Borodino, Moskau und Beresina: eine unübersehbare Fülle lebensstrotzender Gestalten und wildbewegter Ereignisse, über allem aber der grenzenlos weite russische Himmel, „über den leichte, graue Wölkchen sanft dahingleiten".

Was für Riesenaufgabe für den Film, auch wenn er von vornherein auf dreieinhalb Stunden Spielzeit angelegt war, auch wenn er in „Vom Winde verweht“ ein Vorbild an dramaturgischer Oekonomie vor Augen hatte (das er im übrigen weit überflügelt hat)! Durch Verkürzung von Nebenfiguren (diskutabel die von Sonja, Nikolaus und Petja, bedenklicher die von Prinzessin Marie) erzielte, er eine großartige Raffung und Straffung der drei Hauptlinien: Pierre Besukov—Andrey Wolkonsky— Natasha Rostov (die robuste Kappung des Schicksals Elenas ist offensichtlich einer späteren'Schnittüberlegung zuzuschreiben) Er gewann vor allem Raum für die großen Schlachtenszenen. Hier ist alles, was Cecil B. de Mille & Co. an Vorarbeit geleistet haben, übertrumpft. Hier reißen Panoramen von atemberaubender Wucht und grausiger Schönheit auf. Und nirgends und niemals vergafft sich der Film in hohle, monumentale Effekte, im wildesten Schlachtengetümmel spielen sich menschliche und himmlische Tragödien und Komödien der leidenden Kreatur (Mensch und Tier) ab, die man nicht mehr vergißt.

Wer in diesem Film mitgespielt hat, hat die Rolle seines Lebens gespielt. Die Griechen hätten ehedem verlangt, er müsse jetzt sterben... Audrey Hepburns Natasha — die liebliche, verspielte, von den Schwingen tausender Tode, Leidenschaften und Einkehren Gestreifte, Gereifte:' eine Gestalt der „Filmweltliteratur". Henry Fondas vergrübelter Tolstoi-Doppelgänger Pierre und Mel Ferrers Tolstoi- Ideal Andrey: Zwei Spiegelbilder der ewig wankenden, schwankenden russischen Seele. Und ein Dutzend andere: Oscar Homolkas Generalissimus Kutuzov, die stärkste, einprägsamste Maske seit Paul Wegener, eine der größten, vielleicht überhaupt die größte schauspielerische Leistung des Films. Zwielichtig nur Herbert Loms Napoleon: die Marionette seiner bebenden Unrast stammt eher aus der Reichskanzlei 1945 als aus dem Moskau 1812. Aber vielleicht ist es 'gar nicht so weit von A nach B ...

Mit „Krieg und Frieden“ hat der Film gegeben, was er bis heute zu geben hat. Er bleibt Tolstoi hundert Gespräche, Grübeleien schuldig (die im übrigen den letzten Teil des Romanes bis zur Unerträglichkeit belasten), er schlüpft nicht unter die Decke der letzten epischen Tiefe, aber er spielt mit großartiger Geste alle Trümpfe moderner, farbiger Monumentalaufnahmetechnik, den Reichtum gegenständlicher Ereignisse und Gestalten aus, hinter denen immer noch etwas ist, weint, lacht, flucht, zweifelt und betet.

So ist „Krieg und Frieden“ das zeitlose, große Epos des Films geworden, uns nahe wie nur je eines: denn es ist eine Völkerwanderung und ein Kampf der Nationen, ein ewiges Ringen der Menschen und dahinter die unsichtbare Macht, „jene unwägbaren Größen, die die Massen führen."

Ein Film von sagenhafter Größe. Romain Rolland würde über ihn sagen, was er über Tolstois Werk gesagt hat: „Auf dem Weg über die Ilias denkt man an die indischen Heldenlieder.“

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