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Deutschlands „eigentlicher Dramatiker”

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HEINRICH VON KLEIST: SÄMTLICHE WERKE UND BRIEFE IN SIEBEN BÄNDEN. Mit einer Einleitung von Helmut Sembdner. Deutscher Taschenbuchverlag München 1964. Jeder Band zirka 300 Seiten. Band 1 bis 6 Großbände, Preis k 8.60 DM; Band 7 Normalband, Preis 2.50 DM.

„Eine blinde Tat entspringt aus der von Leidenschaft aufgewühlten Seele, die sich über ihr Verhältnis zur Wirklichkeit völlig getäuscht hat. Aber die geschehene Tat ist nicht zurückzunehmen. Sie bleibt unwiderruflich. Die Schillersche Möglichkeit, Taten durch Taten zu sühnen, kennt Kleist nicht. Es gibt keine Umkehr. Wohl verhilft die Tat zur Erkenntnis … (aber) die Erkenntnis reinigt nicht die Tat, sondern führt zu einer noch grausigeren Verkennung der Welt und wird damit zur Geburtsstätte neuer Verbrechen.”

So schrieb Benno v. Wiese vor Jahren in seiner „Deutschen Tragödie von Lessing bis Hebbel”. Blitzartig erhellt dieses Wort vieles Widersprüchliche im Leben und Werk Heinrich von Kleists, Deutschlands „eigentlichen und größten Dramatikers” (Sembdner), aber vielleicht auch seine untergründige Verwandtschaft mit unserer verwundeten, „dramatischen” Gegenwart und damit das große Interesse, das Kleist-Ausgaben nach dem zweiten Weltkrieg im deutschen Sprachgebiet gefunden haben.

Nun macht der Deutsche Taschenbuchverlag den (nach Goethes gesamten Werken in 45 Bändchen und der dreibändigen „Wunderhom”- Ausgabe) dritten Versuch, den Adel klassischer und romantischer Dichtung in demokratischester Weise, das heißt in (sieben) Taschenbüchern einer breiten Masse nahezubringen; wie sehr demokratisch, erhellt aus der Tatsache, daß des Herausgebers Dr. Helmut Sembdner eigene große kritische Gesamtausgabe in zwei Dünndruckbänden (München 1952), deren Text die Taschenbuchausgabe jetzt übernommen hat, über 400. Schilling, die sieben Taschenbücher zusammen aber nur weniger als 180 Schilling kosten und noch dazu einzeln (zwischen zirka 18 und 26 Schilling) gekauft werden können.

Es gehört zu Kleists (1777—1811) tragischem Schaffen und Streben, daß er selbst kein „ einziges seiner Stficke’Sfif cfer BiMhe 1’gese’Hteif%ä1: weder die einmalige Aufführung der „Familie, Schroffenstein” in Graz 18Ö4, ‘noch’ Goethes ‘miß|lüdtte „Krug”-Aufführung in Weimar 1808, noch die „Käthchen”-Inszenierung 1810/11 in Wien, Graz und Bamberg, die samt und sonders ohne Erfolg blieben. Erst Ludwig Tiecks Herausgabe zuerst der „nachgelassenen” (1821), dann der „gesammelten Schriften” (1826) Kleists haben das Eis gebrochen.

In unserem Jahrhundert begann die Kleist-Renaissance mit der großen kritischen Ausgabe in fünf Bänden von Erich Schmidt (1905), die G. Minde-Pouet und R. Steig 1936/38 in sieben Bänden in 2. Auflage herausbrachten. Es folgten die sechsbändige Wilhelm-Herzog-Ausgabe, Leipzig 1908, eine zweite Leipziger in sechs Bänden von A. Eloesser, Julius Babs „Gesammelte” (Berlin L923), Friedrich Michaels (Gesamt-) Enselausgabe in einem Dünndruck- oand (Leipzig 1927), Heinrich Deiters „Gesammelte” in vier Bänden Berlin 1955) und schließlich Ger- lard Stenzeis österreichische Berg- and-Dünndruckausgabe in einem Band.

Sembdner griff für seine große Gesamtausgabe, München 1952, die, wie erwähnt, der jetzigen Taschenbuch- iusgabe zugrundeliegt, auf Kleists Erstdrucke und Handschriften zurück. So entstand ein völlig revidierter Text, der besonders die will- lürliche Interpunktion des sonst so verdienstvollen Erich Schmidt korrigiert.

Einer (beinahe allzu) knappen Einleitung Sembdners folgen im ersten Band der dtv-Ausgabe die Gedichte, ferner das frühe Drama „Familie Schroffenstein” (mit den zwei Vorstufen „Familie Thierrez” und „Familie Ghonorez”) sowie das Guiskard-Fragment, im zweiten und dritten Band die sechs übrigen Dramen, im vierten die Erzählungen, im fünften die Anekdoten und „Kleinen Schriften” und im sechsten und siebenten die für das Kleist- Verständnis so unentbehrlichen Briefe (1793 bis 1804 und 1805 bis 1811). Der siebente Band enthält außerdem eine ausführliche Lebenstafel und ein Personenregister.

Biographie, künstlerische Entwicklung und Werkdeutung sind sparsam gehalten. Hierin werden wir in Österreich gerne auf die vorzügliche Bergland-Ausgabe greifen. Das schmälert nicht das Verdienst der neuen dtv, die in den Händen von Forschern, akademischen Lehrern und Schülern sowie Theaterleuten Unschätzbares leisten kann.

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