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Die deutsche Misere ist zu Ende

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Die inneren Vorgänge in Mitteldeutschland Schwinden, sofern sie nicht von grellen Obertönen überlagert sind, langsam aus dem Bewußtsein der deutschsprachigen Kulturöffentlichkeit. Und das ist ohne Zweifel ein Fehler. Wir dürfen uns nicht in der Illusion wiegen, daß jenseits der Elbe die Zeit stehenbleibt. Wenn man die letzten Nachrichten aus dem dortigen Kulturleben verfolgt, gewinnt man den Eindruck, daß der militante Kommunismus in aller Entschiedenheit darangeht, das deutsche Geschichtserbe aufzuarbeiten. Eine Aufgabe, die für die freie Welt längst an der Tagesordnung ist, hier aber das gewiß unerläßliche Vorstadium sauberer wissenschaftlicher Materialsammlung und -aufbereitung noch nicht verlassen hat. Die wichtigste bewußtseinbildende Kraft der Geschichtsforschung, die aus den tausend Mosaik-steinchen der eigenen Ergebnisse das einleuchtende, eine Generation verpflichtende, anrufende oder mahnende Leitbild schafft, liegt brach. Diktaturstaaten haben es in dieser Hinsicht leichter. Aber das bedeutet nicht, daß man ihnen kampflos das Feld überlassen soll. Und zur Stunde ist man im sowjetisch besetzten Mitteldeutschland auf dem Wege, ein neues Leitbild der deutschen Geschichte für Millionen Menschen zu prägen. Wer sich nur einen Augenblick vergegenwärtigt, was die Aufarbeitung der russischen Geschichte, die keineswegs nur oberflächliche Einschmel-zung der Traditionen vom „Dritten Rom“, von Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen im entscheidenden Augenblick für die Sowjetunion an Kraftzuwachs bedeutete, wird das nicht unterschätzen, was sich heute in Mitteldeutschland auf breitester Ebene zuträgt.

Von dieser hier zu entwickelnden Perspektive her gewinnt auch der augenblickliche Machtkampf, die Säuberung der ostdeutschen Regierungsgruppe, jenseits aller Revolvergeschichten an westlichen Kaminen eine einleuchtende Begründung. Wie sah das Geschichtsbild aus, das unter sowjetischer und kommunistischer Patronanz 1945 in die Köpfe der von der Niederlage noch taumelnden Deutschen dieses Machtbereiches gehämmert werden sollte? Sehr einfach! Der Nationalbolschewik Ernst Niekisch hat mit seiner ominösen Broschüre „Deutsche Daseinsforschung“ das spenglerisch grelle Anfangssignal gegeben. Alexander Abuschs, des zeitweiligen Kulturbundsekretärs „Irrweg einer Nation“ folgte als seriösere zweite Welle. Und wie von einem erratischen Block aus einer ganz anderen Planetenwelt wurde dies alles durch den gerade in Ostdeutschland auch von Nichtkommunisten gefeierten „Doktor Faustus“ Thomas Manns gekrönt.Was dabei — bildungsstufenmäßig differenziert — herauskam, war dies: „Deutschlands Geschichte beginnt mit den Bauernkriegen. Was davor liegt ist Finsternis und Tyrannei, die Bauernkriege scheiterten am Verrat Luthers, der Ritter und der humanistischen Intelligenz. Dann kommt lange nichts, sodann macht Deutschland vereinzelt Versuche, eine .anständige Nation' zu werden, scheitert im wesentlichen aber 1848 wie 1918, von 1813 ganz zu schweigen. Erst 1945 bringt das große Licht der Selbsterkenntnis. Die Ahnenreihe der Verderber von Luther über Kant und Nietzsche bis Hitler wird wie in einem Schreckenskabinett sichtbar, die große Umkehr kann beginnen.“ Man Überträge diese simplen Sätze in ein etwas komplizierteres Deutsch und man hat den Succus dessen, was ein gutwilliger Leser aus dem „Doktor Faustus“ und aus dessen Schlußgebet „Gott möge der armen Seele des armen Landes, des armen Freundes“ gnädig sein, herauslesen konnte und auch herauslas. Ein so „formalistisches, skeptisches“ Werk aber erfreute sich der lobenden Kritik sowjetzonaler Literaturpäpste, wurde wohlwollend analysiert und, einzig durch den unerschwinglich hohen Verlagspreis gehindert, auch verhältnismäßig weit verbreitet. Die gelegentlichen halb und entstellt zitierten Aphorismen Thomas Manns zur Weltpolitik könnten eine solche Förderung nicht erklären. Schließlich veranstaltet die Sowjetzone Deutschlands bei aller Freundschaft ja auch keine Picasso-Ausstellungen. Da war aber etwas anderes: Jene heute als „Westemigranten“ bezeichnete Führungsgruppe des ersten Nachkriegskommunismus, die Abusch und Seghers, Eisler und Kantorowicz, Kneschke und Zimmering, Tschesno und wie immer sie heißen mögen — Geistes- und Her kommensverwandte jener weniger hervorstechenden Intellektuellen im österreichischen Kommunismus — hatten ein bestimmtes Wertbild der deutschen Geschichte wie einen Fetisch mit nach Hause gebracht. Es war und ist dies jener lineare Antifaschismus, der dem Antiklerikalismus der verflachten Aufklärung durchaus ähnlich ist, Geschichte in Schwarz-Weiß-Manier. So differenziert und komplex auch der „Doktor Faustus“ Thomas Manns auf den ersten Blick scheint, letzten Endes kann er in das erwähnte Schema hineingepreßt werden. Und so devot auch die obligaten Verbeugungen vor einer „gesunden deutschen Nationalgeschichte“ zelebriert wurden, das begeisterte Gesicht blieb süß-sauer verzerrt, wenn man plötzlich die Männer von 1813 zu feiern hatte: Körner, den einst als „Moraltrompeter von Säckingen“ Verlachten, oder gar Yorck, den preußischen Junker, und sein Bündnis mit dem pfäffischen Zaren der „Heiligen Allianz“. Für eine Weile, zumindest für die Zeit, da sich auf höchster Ebene das Richtungsduell Shdanow-Malenkow vollzog, bestanden beide Linien der Geschichtsprägung noch nebeneinander. Sie bekämpften sich zwar im Verborgenen, die Befehlsstellen aber verhielten sich schon deswegen noch neutral, weil sie ja selbst nicht einheitlich waren. Dem „Oestier“ Ulbricht stand der „Westler“ Dahlem unübersehbar zur Seite. Nun aber ist dies aus einer Vielzahl von Gründen heraus, die in diesem Rahmen nicht untersucht werden können, anders geworden. Die stillschweigend angenommene These der antifaschistischen Kreuzfahrer aus der Emigration von der Daseinsverfehlung der Deutschen, von der ganz im Sinne des immer mehr verblassenden Karl Marx interpretierten „deutschen Misere“ ist mit einem Schlage staatsgefährlich geworden. Das ideologische Brettergerüst, auf dem ihre Verfechter bisher standen, ist ihnen unter den Füßen abgesägt worden. Das große Abstürzen hat bereits in einer sehr dramatischen Weise begonnen.

Wenig beachtet von der anderweitigen deutschsprachigen Oeffentlichkeit hat das Zentralorgan der SED „Neues Deutschland“ in einem ganzseitigen, vom Redaktionskollektiv verfaßten Artikel die noch nicht einmal aufgeführte Nationaloper Hanns Eislers, zu der der Komponist der ostdeutschen Hymne auch den Text verfaßte, einer scharfen Kritik unterzogen. Auch der Vorabdruck gewisser Partien dieser neuen

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