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Die Träume der Väter

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Die handkolorierten Radierungen von Marc Chagall zu den Fabeln von Lafontaine gehören zum kostbarsten Schatz . der Kunst unserer Zeit. — Einunddreißig — also nur ein Bruchteil von ihnen — sind jetzt in der Galerie S t. S t e p h a n in der Grün-nngcrgasse zu sehen. Nur kleine, zarte Farbtupfen ergänzen das tiefe und dunkelflächige Strichwerk, das der Stichel schuf: ein Dreiklang von Gelb, Orange, Blau etwa, oder gar nur eine einzige Farbe, Grün vielleicht oder Violett. Das Dichterische an den Fabeln zog Chagall, den großen Poeten und Mystiker unter Jen Malern unseres Jahrhunderts, besonders an. Seine Radierungen darf man nicht für Illustrationen ansehen. Sie entstanden dort, wo die Fabeln entstanden, wo alle Fabeln, Märchen und Mythen der Welt entstehen: im Reich des Traumes.

Es ist ein Traum: Er wacht auf in der Nacht und ist noch schwer von den Träumen. Stille ist um sein Lager. Er weiß, er hat geträumt. Er ist hellsichtig geworden. Das ist nicht ein Traum, den jeder haben kann, spürt er. Das ist ein mythischer Traum, der Traum eines Erwählten, der für sein Volk träumt. Er hat die Träume der Väter wieder gehabt, die Träume des Alten Testaments, die Träume der Propheten. Das hat Josef geträumt für seirie Brüder. Josef hat nicht für sich geträumt; das war ein Traum, der die unio mystica einschließt. Er steht auf, und der Traum dauert an. All das Alltägliche um ihn. Tisch und Bett und Kasten berührt er ganz anders, denn was er jetzt tut, das tut er für alle. Da hört er eine Melodie. Was ist es? Woher kommt sie? Kommt sie aus dem Traum, der war, oder aus dem Traum der dauert? Er tritt ans Fenster und blickt in den Hof hinab. Er hört die Melodie jetzt klarer, und er glaubt sie auch zu verstehen. Sie ruft ihn hinaus. Alle Dinge tun sich ihm auf. Er nimmt seine Sachen und geht hinunter. Aus dem Stall führt er seinen Esel und reitet hinaus. Die Nacht ist noch nicht vorüber, aber er kann alles sehen. Und nun entdeckt er die Welt: er entdeckt die Bäume, und er ist ein Gesell, der auf den Baum flüchten muß, weil ein Bär kommt. Und er entdeckt das Meer, und er ist ein Hirte, der am Meer sitzt, und das Meer beginnt rot zu werden gegen Morgen, und er geht nicht mehr weg vom Meer. Und er entdeckt die Tiere, und die Zeichen, die sie tragen. Er sieht den Fisch mit dem Zeichen des Mondes, und den Vogel, den das Zeichen des Pfeils verwundete. Er entdeckt die alten Tiere: Löwe und Kamel, Taube und Fuchs, Wolf und Ziege. Und die neuen Tiere, die später gekommen sind: die Truthennen etwa und den Pfau. Nun wird es Morgen, und er ist der Landmann, der mit der Sense durch das taufrische Gras geht, und die Lerchen sitzen zu seiner Seite und warten. Chagall, so lesen wir, „ergreift jedes Thema seiner Bilder wie ein Volkssänger, In echter Kindlichkeit,

die auch in seiner Darstellungsweise nicht verlorengeht. Mensch und Tier, Engel und Teufel bewegen sich in allen Dimensionen mit poetisch verklärter Selbstverständlichkeit.“ Und wir verstehen, warum die Realität be.i ihm eine solche Intensität erreichen kann und warum das Wirkliche so dicht und so greifbar wird. Er hat die Welt an ihrer Wurzel gesehen, und darum ist ihm der Himmel so dicht geworden wie der Grund einer Wiese und das Licht so dicht wie das Dunkel einer Landstraße. Seine Träume sind ein tiefes Wissen um das Wesen der Dinge an ihrem Anfang, nicht lange nach der Erschaffung der Welt. Das Wissen ist wieder unschuldig geworden. Und so wurden seine Bilder, alle Bilder, die er geschaffen hat, Erinnerungen an die Heimat. An die eine Heimat, die wir alle gemeinsam haben.

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