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EIN PAAR ZUFÄLLE

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Das meistzitierte Beispiel für den welthistorischen Zufall lautete: „Wäre die Nase der Kleopatra ein wenig länger gewesen, so hätte die Weltgeschichte eine andere Wendung genommen.“ Doch warum die Nase und warum gerade Kleopatra? In Wirklichkeit besteht die vergessene Pointe darin, daß Kleopatra — wie ihre Porträtskulptur zeigt — schon sowieso eine recht lange Nase hatte, so daß die Distanz vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht sehr groß war. Sie, die Nase, stand bereits an der Grenze, wo es gefährlich wurde und sie wäre ungefährlich gewbrden. Eben dieses Beinah hat jenes Sprichwort geprägt,

„Der Zufall ist der Gott 061: Narren“, sagt Jonathan Swift. Denn der kluge Mann baut vor, zum Beispiel eine Versicherungsgesellschaft, die ja eine Assekuranz gegen den Zufall ist. Und selbst der Hasardspieler, dieser Masochist der Fortuna und Rauschsüchtige des Zufalls, kann es nicht lassen, gegen ihn dennoch mit ausgeklügelten Glücksspielsystemen zu operieren. Menschenplan steht also gegen den Zufall, doch das Paradoxe ist, daß die beiden sich aneinander steigern: je gewaltiger der Plan, desto winziger der ihn zerbrechende Zufall — denn die Größe des Zufalls besteht in seiner Winzigkeit. Zentralisiert sich der Plan, so zentralisiert sich auch der Zufall: einem Arbeiter gerät der Putzlappen in den Generator, und sämtliche Straßenbahnen der Stadt stehen still wie im Märchen.

Berühmt ist das Wirken des Zufalls beim Untergang der „Titanic“, wo die Arche unserer Zivilisation mit symbolischer Kraft gegen einen Eisberg fuhr. Hier war der Kampf von Zufall gegen Plan so hartnäckig, so dramatisch, daß der Zufall selber den Anschein des Planmäßigen gewann. Man sehe nur, wie er sämtliche vorgebauten Hindernisse mit List überwindet.

Erstes Hindernis: der betreffende Eisberg wird funk- telegraphisch signalisiert. Zufall: man hält diesen neuen Eisberg fälschlich für einen ändern, den man bereits passiert hatte. Zweites Hindernis: bei dem diesigen Wetter stehen zwei Mann vorne am Ausguck, die den Eisberg noch rechtzeitig hätten sichten können. Zufall: diese beiden erhalten keine Ferngläser, weil es deren nur sechzehn an Bord gibt. Aber der Distanzunterschied zwischen bewaffneter und unbewaffneter Sehweite gab gerade die Entfernung, in der man noch ausweichen konnte. Drittes Hindernis: der Eisberg ist gesichtet, aber man kann ein Sinken noch dadurch verhindern, daß man direkt auf ihn zusteuert — der Bug wäre geborsten, doch er hätte sich vielleicht auf den Berg stützen können, und jedenfalls wäre ein Abdichten des Vorschiffes durch Schotten möglich gewesen. Zufall: man versucht, doch noch auszuweichen, und dabei wird der Schiffsboden durch einen Unterwassersporn des Eisberges der Länge nach auf geschlitzt, so daß auch die Schotten nicht mehr absperren können. Nun endlich muß das Schiff sinken. Doch es hätten noch alle gerettet werden können, da sich nicht allzu weit das Schiff „Carpathia“ befand. Dieses war das vierte Hindernis: man stand mit der „Carpathia“ in Funkverbindung und hätte sie also leicht benachrichtigen können! Zufall: die „Titanic“ hatte so viele Depeschen zu versenden, daß sie eine Viertelstunde vor dem Unglück den Operateur der „Carpathia“ bat, die Funkverbindung mit ihr abzubrechen. (Wegen der vielen Millionäre an Bord waren es vor allem Börsenkabel.) Dieser junge Mann stellt seinen Apparat ab, verschließt die Funkkabine, steckt den Schlüssel in die Tasche und begibt sich zufrieden pfeifend in seine Koje. Damit war der Tod von mehr als tausend Menschen besiegelt. Was halfen der „Titanic“ alle Notraketen, die sie dann abfeuerte? Die Leute der „Carpathia“ hielten das für ein üppiges Bordfest mit Feuerwerk Seltsamerweise hat dieser letzte furchtbarste Zufall in keinem der „Titanic“-Filme Aufnahme gefunden. Und dann muß noch ein anderes Begebnis vermerkt werden: einen Tag vor der Katastrophe feierte die „Titanic“ wirklich ein Bordfest. Ein Bordfest in Kostümen, und es hieß: „Auf dem Grunde des Meeres.“

Unheimlich ist auch die Rolle des Zufalls bei der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo, die den Anlaß zum ersten Weltkrieg bot. Da man ein Attentat befürchtete, bekam der Chauffeur des Erzherzogs die Weisung, an einer bestimmten Querstraße vom offiziellen Spalierweg abzubiegen und auf Nebenstraßen weiterzufahren. Der Chauffeur vergißt einzubiegeri, erinnert sich aber sogleich daran, bremst das Auto, um umzukehren — und gibt gerade damit dem Attentäter die Gelegenheit, seine Schüsse abzufeuern! Allerdings wird dieses Walten des Zufalls durch einen seltsamen, aber wohlbezeugten Umstand in Frage gestellt. Der Erzbischof von Großwardein hatte nämlich in der Nacht vorher den Attentatsvorgang mit allen Einzelheiten geträumt oder visionär gesehen und das dem Thronfolger sogleich geschrieben. Doch als der Brief anlangte, war das, was er beschrieb, dem Adressaten bereits widerfahren.

Titanic und Sarajewo — zwei Signale. Im Englischen sagt man „The postman rings always twice“, das heißt: „Der Postbote läutet stets zweimal.“

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