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Endlich der Jugendfilm

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In einem Wiener städtischen Institut für kriminelle und asoziale Jugendliche hatte kürzlich eine Befragung über die Häufigkeit des Kinobesuches folgendes Ergebnis: von 200 Insassen erklärten 90%, mindestens einmal in der Woche einen Film gesehen zu haben. 10% gaben an, daß sie das Kino täglich besuchten; einigen davon war es Gewohnheit, mehrere Male im Tag Filme zu besuchen. Eine andere Erhebung unter Jugendlichen von 14 bis 20 Jahren stellte die Frage, welche Art des Vergnügens und der Unterhaltung die Jugendlichen bevorzugten. Bei 20% der Befragten stand der Kinobesuch an erster Stelle, erst in Abstand folgten Sport, Tanz, Ausflüge, Mädchenbekanntschaften und anderes. Aber auch bei den übrigen 80% lag der Film fast durchwegs im vorderen Feld, zumeist an zweiter und dritter Stelle.

Das sind Alarmzahlen, welche die jüngsten Feststellungen der Wiener Polizei- und Gerichtsstellen über den direkten Zusammenhang bestimmter krimineller Vorkommnisse mit dem Anlauf der berüchtigten Mordfilme der letzten Monate aus dem Ausland bestätigen.

Der Abwehr so verheerender Einflüsse besonders auf verwahrloste, arbeits- und lichtscheue Jugendliche sind derzeit bei uns noch Grenzen gesetzt. Erst seit kurzem fällt die Bestimmung der „Jugendfreiheit” ausländischer Filme, aber auch hier nur von Filmen einer einzigen Besatzungsmacht, wieder in österreichische Kompetenz. Auf den Anlauf der übrigen Filme haben österreichische Stellen nach wie vor so gut wie keinen Einfluß, es bleibt ihnen bestenfalls das Recht zu den an uns so gerühmten höflichen Vorstellungen, wenn das Unglück bereits geschehen ist, das heißt wenn durch augenfällige kriminalistische Feststellungen oder durch geräuschvollere Pressedebatten genug Staub aufgewirbelt wurde. Nur in einigen wenigen Fällen haben sich die zuständigen Alliiertenstellen auskulturellem Prestige zur freiwilligen Zurücknahme bereits angelaufener Sensationsfilme aus dem Spielplane herbeigelassen.

Dabei ist das Übel mit dem Fernhalten der Jugend von den schlimmsten Mord- und Sexualfilmen noch lange nicht an der Wurzel gefaßt. Der Film ist da und lockt die Masse mit der ganzen hypnotisierenden Macht seiner inneren und äußeren Darstellungsmittel. So bleibt die Frage offen: Wo sind die Filme, die man Jugendlichen nicht nur ohne Bedenken, sondern sogar zu ihrem Gewinn, zu ihrer Verstandes- und Gemütsbildung zeigen kann?

Die Zeichentrickfilme der Amerikaner, besonders die klassischen Märchenfilme Walt Disneys, und aus jüngster Zeit auch ausgesprochene Jugendliche-Filme der Engländer (wir haben bisher davon in Wien „Donnernde Hufe” und „Abenteuer in Mara-Mara” gesehen) weisen hier einen Weg. Besondere Aufmerksamkeit wendet sich in diesem Zusammenhang einer „Festwoche des sowjetischen Jugendfilms” zu, die in Wien und den Bundesländern vom 14. bis 23. Mai 1948 stattfindet. Rußland besitzt als einziges Land der Erde seit 1936 ein Filmstudio („Sojusdetfilm”) in Moskau, das unter Mitarbeit von Pädagogen und Jugendschriftstellern ausschließlich mit der Produktion von Filmen für Kinder und Jugendliche befaßt ist: Abenteuerfilmen, Märchenfilmen, Filmen mit Erziehungs- und Bildungstendenz. Eine Anzahl davon ist in Österreich bereits gezeigt worden und hat grundsätzlich freundliche Aufnahme gefunden, Ihr politischer Gehalt mag bisweilen („Der neue Gulliver”) nicht ganz dem Fassungsvermögen der Jugendlichen entsprochen haben — eines aber steht unleugbar fest: diese russischen Filme zeichnet ausnahmslos eine moralische Sauberkeit, ja Keuschheit aus; kein einziges Mal brauchte der Vorwurf der kriminellen oder sexuellen Überreiztheit ausgesprochen werden, wie er gegen Filme anderer Nationen so häufig erhoben werden mußte. 20 bis 25 Prozent der gesamten in Österreich gezeigten russischen Produktion sind solche Jugendfilme — ein Zeugnis dafür, welche Bedeutung Rußland nicht nur daheim, sondern auch im Ausland dem Gesamtfragenkomplex beimißt.

39 Wiener und 88 Provinzkinos werden in diesen Tagen also solche Jugendfilme spielen — eine eindrucksvolle Parade, die eigentlich unsere österreichischen Kultur- und Filmstellen zu ähnlichen Anstrengungen anspornen müßte. Die Seele unseres Volkes ist in manchem anders geartet als die des russischen. Gemeinsam aber müßte uns das Ziel sein: in dieser Seele früh alles Wahre, Schöne, Gute zu wecken und von ihr fernzuhalten, was der Film an Schlacken auswirft: den „perfekten Mörder”, die „Verruchten Gassen”, die „Geheimnisse von Paris”, die für die Erwachsenen längst traurig entschleierte sind, für die Jugend aber ohne Schaden weiterhin unentschleierte bleiben.

Die Probe aufs Exempel bildeten zwei Erstaufführungen, die bei aller Verschiedenheit des Stoffes das eine Ziel verband: „Unter Mensche n”, der zweite Teil der Maxim-Gorki-Trilogie, die breitströmende, mit slawischer Bild- und Klangpoesie getränkte Geschichte einer harten Jugend, wirkt auf die Seele des Jugendlichen durch den herrlichen Trotz und Mut zum Leben und zur Selbstbehauptung; „Das Zauber- k o r n”, ein motivenbuntes, leider unerträglich „teutsdi” synchronisiertes Abenteuermärchen, durch Tatendrang und Abscheu vor dem Bösen. Mögen in dem erste- ren die harten Szenen der wunderlichen Heiligenbildermaler, in dem zweiten gewisse Anklänge der äußeren Gestalt eines „Dr. Allwissend” an das religiöse Bild Gottvaters gewisse Bedenken hinterlassen, der Gesamteindruck war nichtsdestoweniger erfreulich. Tiefere Wirkung noch als die beiden Hauptfilme übte der Beifilm zum Märchen, „Auf W i 1 d s p u r”, eine Spitzenleistung des naturwissenschaftlichen Dokumentarfilms von Weltformat, ein Kulturfilm par excellence.

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