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Erinnerungen an eine Liebe

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Seit meiner Kindheit empfand ich den Wunsch, die zu sein, die ich schön fand, und nicht, mich von ihnen lieben zu lassen. Meine eigene Schönheit mißfiel mir. Ich fand sie häßlich.

Erinnerungen an menschliche Schönheit blieben mir gleich Wunden zurück. Eines Abends in Murren, zum Beispiel. Ich war damals elf Jahre alt. Ich entsinne rriich noch eines Priesters, der seinen Koffer verloren hatte, an das harzduftende Hotel, das Eintreten in die Hotelhalle, in der Damen Patience legten und Männer rauchten oder die Zeitung lasen. Plötzlich, während des Aufenthaltes vor dem Käfig des Aufzugs, ließ sich dieser herab und ein Paar stieg aus. Ein junger Mann und ein junges Mädchen, beide mit durMen Gesichtern und Sternenaugen. Sie lachten und zeigten wundervolle beinweiße Zähne. Das junge Mädchen trug ein weißes Kleid mit einem blauen Gürtel, der junge Mann war im Smoking. In meinem Zimmer, das einen Blick auf eine Gletscherwand bot, betrachtet ich mich in dem langen Wandspiegel, Ich verglich mich mit dem Paar. Ich wollte sterben. Später lernte ich die jungen Leute kennen. Tigrane d'Ybreo, Sohn eines Armeniers aus Kairo, sammelte Briefmarken und erzeugte Zuckerwerk über einer Spiritusflamme. Seine Schwester Idschi trug neue Kleider und abgetragene Schuhe. Sie tanzten zusammen. Die abgetragenen Schuhe und der türkische Honig zeugten von einer königlichen, aber unsauberen Rasse. Ich träumte von dieser Küche und diesen Löchern in den Schuhen. Ich beneidete sie. Ich sah darin das einzige Mittel, mich mit diesen beiden Tempelkatzen zu identifizieren. Ich wallte Mandelkaramellen hexstellen. Künstlich vertrat ich meine Schuhe.

Idschi hustete. Sie war turberkulös. Tigrane brach sich beim Eislaufen ein Bein. Der Vater bekam ein Telegramm. Eines Morgens reisten sie ab, hustend und hinkend, gefolgt von einem Hund, mysteriös wie der Gott Anubis. Auch ich hustete. Meine Mutter wurde fast wahnsinnig vor Besorgnis. Ich ließ ihr diese Qual. Ich hustete aus Liebe. Auf Spaziergängen hinkte ich insgeheim. Jeden Abend nach dem Essen saß ich in einem Korbsessel in der Halle und glaubte Idschi in ihrem weißen Kleid nach Art der heiligen Jungfrau im beleuchteten Rahmen des Lifts wiederzusehen, zwischen dem Hotelpagen und Tigrane, wie sie, unterstützt von Engeln, zum Himmel emporstieg.

Von meinem elften bis zum acbtundzwanzigsten Lebensjahr verzehrte ich mich wie das armenische Zigarettenpapier, das schnell brennt, aber nicht gut riecht. Narziß liebte sich. Für dieses Verbrechen verwandelten ihn die Götter in eine Blume. Diese Blume verursacht Kopfschmerzen, und ihre Zwiebel entlockt nicht einmal Tränen. Meine Geschichte ist verwickelter. Ich liebte die Fluten des Stromes. Aber die Fluten fließen, dahin, ohne sich um die Badende, oder die Bäume zu kümmern, deren Bild sie widerspiegeln. Ihre Sehnsucht ist das Meer. Sie küssen es am Ende einer ewig langen Reise und stürzen sich voll Wollust hinein. Ich fühlte immer, daß die menschliche Schönheit, wie die Flüsse, ein Bett und ein Ziel haben. Sie zog vorbei, in andere Gegenden. Ein Schiff liebtet die Anker, bricht auf ins Unbekannte, zu Reisen nach Cythera, nebelhaft und zauberisch; der Vorhang in einer Music-Hall fällt; die Familie Ybreo kehrt zu ihren Göttern zurück. Ich erinnere mich, wie Idschi mir während eines Eishockeywettspiels gesagt hatte, daß ich Seti dem Ersten gliche. Dies war der einzige Blick des Flusses, an den ich mich erinnere.

Damals staute sich das Wasser. Es gab mir leidenschaftlich mein Spiegelbild zurück. Ich betrog das Meer. Vielleicht hielt ich die Stimme einer Nixe für die des Wassers. Aber ich analysierte nicht. Mein Herz ließ mir nicht mehr die Wahl. Acht Jahre später lag ich krank zu Bett. Meine Mutter strickte in meiner Nähe. Um das Schweigen zu brechen, sagte sie: „Erinnerst du dich noch an Idschi d'Ybreo in Murren?“ Sie zählte ihre Maschen. „Die Zeitung bringt die Nachricht, daß sie in Kairo gestorben ist.“

Diesmal ließ meine Mutter ihre Arbeit im Stich. Ich fiel zurück. Tränen rannen über meine Wangen, heiße Tränen. „Jean!“ rief sie aus. „Was hast du? Was fehlt dir, Jean?“ Sie umarmte mich, hüllte mich in ihren Schal. Ich schluchzte, ohne zu antworten.

(Berechtigte Übertragung aus dem Französischen von H. Wogau.)

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