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Die Puppe von Norwidi

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Der Heimkehrer erzählte: Ich war nach einem längeren Krankenlager aus dem Reservelazarett entlassen worden. Die Hoffnung auf einen Heimaturlaub war zunichte geworden. Man brauchte für die russische Front jeden Mann und so hieß es wohl bald wieder die endlose Fahrt nach dem Osten antreten. Aber gerade in diesen Septembertagen weilten meine Gedanken viel und sorgenvoll in der niederösterreichischen Heimat, denn die Traudel sollte ja unserem ersten Kind das Leben schenken und ich hatte schon wochenlang von meiner jungen Frau und von meiner alten Mutter keine Nachricht.

Da kam der große Fliegerangriff am 24. September, der die halbe Stadt, den Standen des Lazaretts, in Schutt und Trümmer legte. Ich war mit anderen Kameraden zu den Bergungsarbeiten kommandiert worden und hatte noch während des Angriffes den Schutzraum verlassen, als noch der brennende Phosphor vom nächtlichen Himmel regnete und die Lüfte vom Geheul und Pfauchen der Bomben erfüllt waren. Ich will euch nicht mit der Schilderung der Greuelbilder in den flammenden Straßen und verschütteten Häusern quälen. Ihr habt ja dergleichen hundertmal gelesen und gehört und es ist dies auch nicht der Zweck meiner Geschichte, mit der ich mir vor guten Freunden manch Unfaßbares vom Herzen reden will.

Bei Tagesanbruch also kam ich mit noch ein paar anderen Kameraden in eine Vorstadt hinaus. Der Qualm verlor sich, von den Waldhügeln am Fluß wehte ein frischer Hauch, im Osten zeigte sich zwischen den zerflatternden Rauchschwaden ein roter Streifen, nicht Brand, sondern die Morgenröte.

Ich blieb stehen, zum erstenmal nach stundenlangem Herumziehen. Der ganze, noch von der Krankheit erschöpfte Körper schmerzte. Gibt es denn einen Gott, der diese Greuel zulassen kann, dachte ich verzweifelt, bald auf die rauchenden Trümmer, bald auf den rosigen Streifen starrend, der schön und fröhlich wie ein erblühendes Rosenbeet an dem geschändeten Himmel stand?

Da hörte ich — kam mir Antwort? — ein leises Stöhnen. Etwa zehn Schritte von mir lag auf dem falben Rasen unter verfärbten Büschen ein Mensch, ein Mann, lang hingestreckt. Ich humpelte näher, sah den Ledermantel, die Wickelgamaschen mit Blut befleckt, ein abgestürzter englischer Flieger. Es war ein großer, schöner Mann, blondhaarig, mit langen schlanken Gliedern, die blauen Augen drehten sich in dem entstellten, jugendlichen Gesicht, sein Flugzeug, das mit anderen in der verflossenen Nacht Verderben über diesen Fleck Erde gebracht hatte, mochte wohl nahebei zerschellt auf dem Boden liegen.

Ich beugte mich über den Sterbenden. Ihr dürft mir glauben, es war nicht das rechte Gefühl, das mich in diesem Augenblick erfüllte. Da lag ein Soldat, der in seinem Dienst gehandelt hatte. Aber vor mir lag die zerstörte Stadt mit tausenden verbrannten und zerschmetterten Frauen und Kindern und viele Meilen weit von hier war die Traudel mit unserem ungeborenen Kind, die im Augenblick vielleicht die gleichen Schrecknisse erduldete.

Schon wollte ich mich aufrichten, fortgehen. Da sah ich neben ihm, halb aus der Tasche des Lederwamses herausgeglitten, ein Figürchen liegen, sonderbar, eine Puppe, aber keine der faden Maskotten, wie sie Soldaten öfter bei sich haben, sondern eine richtige Spiel- und Kinderpuppe, mit herzigem Porzellangesicht und blonden Locken, in Rosawaschkleidchen, mit weißen Lederschuhen. „Norwich“ stand in halbverwischten Lettern auf dem Puppenschuh eingepreßt und daneben der Name der Firma.

Ich nahm die Puppe in die Hand, sah in ihre großen, blauen Glasaugen. Da regte sich der schon halb Bewußtlose, sein Arm streckte sich gegen die Puppe aus, sank dann wieder verkrampft zurück. „Baby“, murmelte der fahle Mund.

Liebe Freunde, da kam es über mich wie ein warmer Strom, eine Welle von Licht und Liebe, das Gottes wunder, die Antwort auf meine Frage und Anklage zwischen den Trümmern einer zerstörten Stadt, am armseligen Sterbelager eines unbekannten fremden Soldaten. Hatte man uns nicht in der Lagersdiule und in hundert Ansprachen gepredigt, es sei Pflicht eines Mannes und Soldaten zu hassen, je fanatischer um so besser, Falsche Lehre, Botschaft des Antichrist, die unter dem Blick der blauen Puppenaugen sinnlos in die Morgenluft verwehte!, Ich kniete neben dem Sterbenden, der ein Soldat war, ein Ehemann, ein Vater wie ich, dessen junges Weib fern in Norwich an der blauen See ihn erwartete wie die Traudel im Gartenhaus an der blauen Donau mich. Ich kniete neben ihn, bettete sein Marterhaupt an meine Brust, legte ihm die Puppe in die Arme, träufelte einen Schluck aus meiner Feldflasche zwischen seine bläulichen Lippen.

Er wandte noch einmal den Kopf, sah mich mit den brechenden Augen gut und freundlich an. „Thank you, friend!“ Und dann betete ich das Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schulden, so wie auch wir vergeben...“ — War es Wahrheit oder Täuschung, daß mir ein letzter Hauch entgegenwehte . . „For ewer — amen!“

Später fand ich meine Kameraden — es waren Österreicher — und wir sorgten dafür, daß der Tote sein ehrliches Soldaten-grab bekam und die junge Witwe in Norwich Nachricht und seine kleinen Besitztümer. Nur die Puppe Baby nahm ich einstweilen mit mir.

Sie begleitete mich, sorgsam neben meinem Soldbuch und dem Bild der Traudel verwahrt, auf dem furchtbaren Rückzug von Minsk. Alles schien ausgelöscht bei diesem stumpfsinnigen Dahintrotten im Schneesturm, bei 20 Grad Kälte, alles Denken und Fühlen erstarrt. Nur in jener Herzseite, an der ich das Püppchen versteckt trug, pulsierte noch ein winziger Lebensfunke, wärmte den ermattenden Körper, trieb ihn vorwärts, bis er in das Stroh der rettunggebenden Bauernhütte sank. Die Puppe begleitete mich durch die Wellen und Planken eines Schiffbruches, als unser Transporter auf einer Nordseemine krachend zerfiel. Sie gewann mir in kurzer Gefangenschaft die Zuneigung eines britischen Offiziers, der an einem Lagerfeuer in der Normandje, die ausgegangene Stummelpfeife im Mund, ernst und schweigsam meinen Bericht anhörte.

„Bring sie deinem Baby!“ meinte er nnd gab mir die zerraufte Puppe wieder in die Hand.

„Du hast mir aber die Baby nicht gegeben, Pappi“, beklagte sich die dreijährige Gretel, die eben an der Hand der Mutter ins Zimmer kam. Und sie wendete das Stumpfnaserl sehnsuchtsvoll gegen die Vitrine, wo zwischen Alt-Linzer Porzellan die Puppe ans Norwich thronte, blondlockig in frischgebügeltem Rosakleidchen und ans blauen Glasaugen schicksalsvoll in die fremde Welt blickte. •

„Du hast ja Puppen genug, Greti“, tröstete Frau Traudel und erzählte dann, neben ihren Mann sich setzend: „Nie werde ich diesen 24. September vergessen. Die Nacht war schlimm gewesen, um Mitternacht gab es Fliegeralarm, aber die bösen Vögel flogen über unser Städtchen weiter nach Osten. In der Früh war dann die Gretel da. Ich lag matt und erschöpft und dachte an dich und ob unsere Kleine noch einen Vater hätte. Da sah ich durch das Fenster gegenüber meinem Bett einen Streifen Morgenröte, schön und rosig wie das Rosenbeet vor unserem Haus. Das Kind neben mir bewegt die Hände und sah wie eine winzige Puppe aus mit den blonden Härchen und dem blanken Gesidhtel. Da faltete ich die Hände, betete das Vaterunser und hoffte, daß noch alles gut würde.“

Der Heimkehrer nickte der Frau zu: „Wenn einmal wieder alle Wege offen sind, fahren wir vielleicht nach Norwich und bringen der jungen Mutter dort die Puppe Baby.“

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