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Geschichte heißt Geschehen

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Einst jubelnd erwartet und gefeiert, sollte das 20. Jahrhundert, durchstrahlt vom kalten Lichte der angebeteten Vernunft, dem sittlich autonomen, fessellosen und freien Menschen die Entrümpelung von Glauben und Mystik und die Ent- thronisierung der Gefühle bringen; sollte in ihm der stolze Bau einer kühnen Zivilisation, einer materialistischen Kultur und einer Wohlstand und Freiheit verbürgenden Wirtschafts- und Sozialverfassung seine Vollendung finden. — Vanitas vanitatum!

Der erste Weltkrieg brachte statt

dessen Chaos und Verzweiflung. Die Fortschrittsgötzen stürzten, und alte Fundamente einer tausendjährigen Kultur zeigten tiefe Risse. Der moderne Spötter Mensch lästert zwar weiter, aber er zittert im Herzen. Die Weltangst und die Furcht vor dem ungewissen Morgen erhoben ihre grauenvollen Häupter, und ein

Oswald Spengler schrieb vom „Untergang des Abendlandes“. Dann aber bäumte sich der Lebenswille auf, und es begann ein Suchen nach neuen Stützen für das in den Grundfesten erschütterte Gebäude der europäisch-abendländischen Kultur. Ein neuer Glaube, eine neue Mystik und neue romantische Gefühle erregten die Menschen, aber es waren und sind Irrlichter im Sumpf. So stürzte sich die Menschheit, ergriffen vom Fanatismus der Verzweiflung, beseelt von diabolischen Haßgefühlen, in die Religions- und Weltanschauungskämpfe der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. So wie einst im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation verliefen die kämpfenden Fronten nicht an den Staatsgrenzen, sondern mitten durch die Herzen der Völker, entzweiten Vater und Sohn sowie Geschwister. Wahrhaftig, wir erleben eine dämonische Zeit, in der die apokalyptischen Reiter über den Erdball brausen.

Wir Menschen von heute aber wissen trotz unserer Verflechtung in das turbulente Geschehen des Alltags, daß der Sinn des 20. Jahrhunderts nicht Chaos, nicht Untergang und Ende ist. Nein, es ist eine Zeit der Wende und des Umbruchs. Es stirbt nur Altes, Morsches; nur alte Formen versinken, einstmals mächtige Ideen bleiben zurück als vom Geist entleerte Hülsen. Der Finger Gottes zeichnet mit starkem Griffel eine weltgeschichtliche Zäsur zwischen dem Gestern und dem Morgen, und in dem großen Buche der menschlichen Kultur setzt ein neues Kapitel ein. Dieses aber kündet von neuen Formen und von Ideen, die von einem neuen Geist getragen sind.

So ist das Abendland am Höhepunkt der Krise; aber es ist die Krise der Genesung. Deshalb sollten wir nicht klagen, denn neben der Not und dem Leiden unserer Zeit

gibt es für den Wissenden das Glück, sie zu erleben. Der Preis scheint hoch, aber er vermittelt uns tiefere Erkenntnis. Denn nur Geschlechtern an einer Zeitenwende ist eg beschie- den, mit ihrer Erinnerung die so andersgeartete Vergangenheit noch zu besitzen, jedoch mit ihrem Denken, Forschen und Gefühl die Zukunft zu erfassen. Und welchem Geschlecht wird es zuteil, daß sich ihm Einsichten offenbaren, die ohne Zerstörung eingefahrener Denkgeleise nie hätten gewonnen werden können? Daher ist unsere Zeit so wesenhaft, weil sich Schein und Sein entflechten. Von vorgefaßten Meinungen und Phrasen bleiben nur die echten Tatbestände übrig. So wie im Feuer der Front und in den Todesängsten der KZ sich hinter der gesellschaftlichen Tünche die wahren Charaktere zeigten, genauso zeichnen sich in dem scheinbaren Chaos der geistigen Entwicklung bereits die Konturen der neuen, der echten Fundamente der abendländischen Kultur ab. Die Geister, die einst der Zauberlehrling — nämlich der hochmutsstolze Mensch — vermessen rief und die ihn jetzt bedrängen, verlieren ihre Kraft, weil er im allerletzten Augenblick in neuerwachter Ehrfurcht sich den richtigen Standort im Kosmos sucht. Mit dieser Demut gewinnt der Mensch die wahre Freiheit, verlieren Staatsallmacht, Willkür und Diktatur, diese Götzen unserer Zeit, Vor der die Selbstachtung und Würde des Menschen im Staube liegen, ihre magische Gewalt. Die Götzen und Dämonen wissen dies. Deshalb stürmen sie noch einmal. Die Satten sehnen sich nach gefräßiger Verdauung. Aber die erhoffte Ruhe wird ihnen nicht zuteil; denn Geschichte heißt Geschehen.

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