6572535-1950_27_03.jpg
Digital In Arbeit

Heimat den Heimatlosen!

Werbung
Werbung
Werbung

Das unsaubere Dumping, das aus U n-g a r n und der Tschechoslowakei unter dem Schutz einer Besatzungsmacht mit unverzollten Einfuhren gegen Österreich betrieben wird, liegt schwer schädigend auf österreichischen Industriezweigen, namentlich Fabriken der Elektro-und Emailindustrie. Die Folge sind bereits Arbeitsstockungen und Arbeiterentlassungen. Die ersten Opfer als Entlassene sind die Vertriebenen und Flüchtlinge aus ehemals österreichischem Gebiete. Bitterkeit und Unruhe macht sich jetzt unter den Flüchtlingen breit, die, kaum daß sie einen bescheidenen Lebensraum sich vielleicht wieder erobert haben, sich aufs neue hinausgestoßen sehen. Dieses harte Erleben hat hundertweise illegale Grenzübertritte nach Süddeutschland ausgelöst. Westdeutsche Zeitungen kommentieren diese Geschehnisse mit einer Schärfe, die nicht einem gerechten Urteil entspricht. Von glücklichen Ausnahmen abgesehen — appellieren die Schicksale der 9 Millionen Flüchtlinge in der Westzone Deutschlands nicht minder an die Einsicht und die Verantwortlichkeit der Kulturwelt, wie das gewiß nicht leichte Geschick der 305.000 in Österreich. Dort wie hier mögen gelegentlich nachgeordnete Amtsorgane die ethische Seite ihres Auftrags ungenügend erfaßt haben. Die persönliche Einstellung des westdeutschen Einwohners zu den Heimatvertriebenen ist aber durchschnittlich keineswegs anders als die des Österreichers. Es sei hinzugefügt, daß eine ganze Anzahl Betriebsführer und Handwerksmeister ihre Volksdeutschen Arbeitskräfte trotz bürokratischer Einsprachen behalten haben. Sie und viele andere haben diese „Altcsterreicher“ in bewußter Vorwegnahme längst als Gleichberechtigte in unsere Mitte aufgenommen.

E i n ausschlaggebender Unterschied besteht allerdings in der Beurteilung dieses gesamteuropäischen Problems: der Bevölkerungsanteil der Heimatvertriebenen erreicht in einzelnen deutschen Ländern 25 Prozent, ja 36,8 Prozent und macht damit die Bereinigung dieser Frage aus eigenen Kräften unmöglich. Österreichs deutschsprachige Heimatvertriebene zählen dagegen nur 5 Prozent unserer Gesamtbevölkerung. Bei dieser Feststellung hat das innere Gespräch über die unserem kleinen schwergetroffenen Lande verfügbaren Möglichkeiten einzusetzen. Die bisherigen Teillösungen kranken nicht allein an der Spärlichkeit unserer Mittel, sondern an der an berufenen Stellen mangelnden Erkenntnis, daß diese 5 Prozent für Österreich ein Staatsproblem ersten Ranges darstellen, weil praktisch kein Sektor des öffentlichen und privaten Lebens von ihrer Anwesenheit unbeeinflußt bleibt. Eine Vernachlässigung des Heimatvertriebe-nenproblems muß sich früher oder später auch politisch rächen. Wegen dieser Verflechtung bedeutet eine kritische Prüfung der Heimatvertriebenenfrage im Grunde auch die Prüfung unserer Staatsräson und Staatspraxis.

Man kann vielleicht fragen: Gibt es keine Ausweichmöglichkeit, wenn man vor diesem Problem steht? Die Erwartung einer massenweisen Abwanderung der Heimatvertriebenen nach Westen oder Osten ist ebenso ohne reale Voraussetzung, wie auch die Annahme, daß eine künftige internationale Regelung die Lösung bringen werde. Unter den gegebenen Verhältnissen gibt es für die überwiegende Mehrzahl unserer Heimatvertriebenen keine internationale Ausweichmöglichkeit, sondern nur eine österreichische und damit die einzige menschliche Lösung. Die Verzögerung wirksamer Maßnahmen kostet unserem Staat täglich kostbare materielle und geistige Substanz. Ein halbes Jahrzehnt ist mit Flickarbeit verstrichen. Dabei haben wir es nicht mit totem Massengut eines internationalen Traffiks zu tun, sondern mit Menschen, die uns verwandt sind und deren nacktes Elend erschütternd ist. — Die moralische Gefährdung überwiegt dabei die Barackennöte. Was not tut, ist, daß sterile Bürokratie durch sachkundige Initiative, halbe Maßnahmen durch ganze Menschlichkeit ersetzt werden.

Die grundsätzliche Lösung liegt zweifellos in der vollen Anwendung jener sozialen Grundsätze für alle Schaffenden, auf die Österreich mit Recht stolz ist. Neben der Gleichstellung im Arbeitsprozeß ist das zweite, wesentliche Aniiegen die generelle Sichersteilling der mäßigen Zahl von Rentnern, Invaliden, Witwen und Waisen unter den Vertriebenen. Manches ist auf diesem Gebiet bereits geschehen. Eine Untersuchung mit dem Rechenstift ergibt, daß die Sozialabgaben der Volksdeutschen Werktätigen eine solche Höhe erreichen, daß man daraus mehr als ein moralisches Rech tauf soziale Versorgung ihrer Unterstützungsbedürftigen ableiten kann. Wir brauchen darin den Volksdeutschen nichts zu schenken, sondern bloß das L e i s t u n g s prinzip anzuwenden und ihnen den gerechten Anteil auszufolgen. Es fehlt feiner noch immer an der — wenigstens

übergangsweisen — Schaffung einer zentralen, aktionsberechtigten Behörde, die, von Fachleuten getragen, dem hier vorliegenden großen Problem unserer Generation zu Leibe geht. Man sollte die Heimatvertriebenen aus ihrer Bittsteller- und Beschwerdeführerrolle erlösen und ihnen eine wirksame Mitverantwortung an der Bewältigung der gestellten Aufgabe einräumen. Es ist heute längst nicht mehr verborgen, welche Institutionen für die Vertriebenen ungenügend funktionieren. Setzen wir regionale, parteiliche und formale Hemmungen, die bisher einem ernsten Ordnungmachen entgegenstanden, beiseite und beseitigen wir einen Zustand, der längst schon dem christlichen Gewissen, ja überhaupt der Menschlichkeit, widerspricht. Für die Heimatvertriebenen aus Besatzungsrücksichten ein Dauerprovisorium zu proklamieren, reicht an einen Verzicht auf jede eigene Gestaltung unserer Zukunft heran. Die Verantwortlichen Europas haben dieser großen Frage bisher kaum mehr als eine oft wenig verstehende Kritik und zusammenhanglose Maßnahmen zugewendet. Wir müssen selbst zugreifen, um den unwürdigen Zuständen ein Ende zu bereiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung