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Ohne Heimat in Österreich?

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Seit September 1949 ist die Sache der Heimatvertriebenen in ein neues Stadium getreten: ihr Schicksal wurde zum erstenmal von amerikanischer Seite als Angelegenheit internationalen Interesses anerkannt. Eine neungliedrige Kommission des Kongresses unter der Leitung von Francis Walter hat Europa bereist und den Notstand der „expulsees" aus unmittelbarem Augenschein erhoben. Der Eindruck war auf sie, wie sich Teilnehmer ausdrückten, erschütternd. Sie stellten fest, die Umstände, unter denen die 15 Millionen Heimatvertriebenen Europas fast fünf Jahre nach dem. Kriege leben müssen, seien himmelschreiend und unhaltbar. Die Sachverständigen werden mit Unterstützung der Leitung der ERP- Hilfe der amerikanischen Regierung ein Hilfsprogramm unterbreiten, das in nächster Zukunft anlaufen dürfte. Eine weitere Feststellung besagt, daß zum Beispiel die IRO gegenwärtig noch etwa 700.000 DP in Europa betreut. Die Zahl der durch die Kirchen und internationalen Hilfsorganisationen Befür- sorgten dürfte 8 Millionen erreichen. Man denkt nun auch an Investitionen für die zahlreichen von Heimatvertriebenen gegründeten Unternehmen. Bezeichnend ist, daß zu gleicher Zeit von volksdemokratischer Seite eine teilweise Rückführung der Heimatvertriebenen geplant wird. Konkrete Versuche dafür liegen auf rumänischer und jugoslawischer Seite vor. Werden die angesagten Maßnahmen gut und richtig durchgeführt, so wird aus der traurigen Verlassenschaft der europäischen Völkerkatastrophe einer der dunkelsten Flecke hoffentlich verblassen. Aber es bedarf mehr als dieser organisatorischen Maßnahmen. Es muß sich dem Bewußtsein einheften: Es bedarf der Menschlichkeit und des sozialen Gewissens auch bei uns in Österreich, um dem traurigen Los der hunderttausenden Heimatvertriebenen, die sich bei uns befinden, die gerechte Wendung zu geben. Daß unter diesen Unglücklichen auch solche sind, die moralisch Schiffbruch gelitten haben, wen kann es wundern und wer darf den ersten Stein erheben? Wir sollen mit ihnen nicht auch jene Menschen verelenden, die uns geholfen haben, „den ersten Schutt des letzten Kriezes“ fort.

zuräumen und heute nach jahrelanger, treuer Arbeit zum Teil vor dem Nichts stehen, weil sie sozial vogelfrei sind. Als ein Seiltänzer in den Donaukanal stürzte, begleitete seinen Sarg ein Lastwagen voll Kränzen. Nicht weil er eigentlich ein arbeitsloser Schneidergeselle und heimatvertriebener Schwabe aus der Batschka war, sondern weil er die Sportler interessiert und im Zirkustrieb zehntausende Schaulustige unterhalten hatte. Es war aber einer von 360,000 Menschen in Österreich, Heimatvertriebener aus Gebieten der früheren Monarchie, unter denen man vielen mit den Kosten jener Kränze hätte helfendtönnen, aber an die niemand dachte, obwohl man damit dem armen Toten die schönste Liebesgabe aufs Grab gelegt hätte.

Menschen wohnen in Wohnhöllen zusammengepfercht, Familien sind über hunderte Meilen auseinandergerissen: alt und jung leben sie in ausweglosem Elend, vor unseren Augen, die wir ein Dach über dem Haupt und eine gesicherte Arbeitsstelle haben. Ein alter, hilfloser k. u. k. Oberst, aus dem Sudetenland ausgetrieben, gestand uns kürzlich am Allerseelentag, daß er nicht das Straßenbahngeld besaß, um seiner verstorbenen Frau, einer gebürtigen Österreicherin, einige Blumen auf das Grab im Zentralfriedhof zu bringen. Die vier Kinder eines Schustergesellen sind unterernährt. Grund? Er wurde auf Weisung eines Arbeitsamtes von seinem Meister, für den er drei Jahre zur vollen Zufriedenheit gearbeitet hatte, entlassen ... Heimatvertriebene erhalten keine Notstandshilfe, zum Beispiel im Falle der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsämter1 wenden zum Teil bereits praktisch das geplante harte Inland- arbeiterschutzgesetz an und steigern die Verproletarisierung volksdeutscher

Arbeitnehmer. Bauern müssen besitzlose Landarbeiter bleiben, Spezialarbeiter und Geistesarbeiter werden nur als Hilfsarbeiter zugelassen, junge Menschen erhalten keine Lehrlingsstellen, Meister kein Gewerberecht. Pensionen und Renten fallen für sie selbstverständlich fort. Gewiß hat die Leistungskraft unseres Landes ihre engen Grenzen. Und was es tat, brauchte es nicht infolge einer staatlichen Verpflichtung wie Deutschland zu tun, da es nicht wie dieses durch das Potsdamer Abkommen zur Aufnahme der Vertriebenen gezwungen war. Was der Buchstabe eines Abkommens nicht vorschrieb, das schrieb und schreibt heute die Menschlichkeit und das soziale Gewissen vor.

Die rechtliche Stellung der Heimatvertriebenen in Österreich bedarf einer Revision. Sie soll eines Kulturstaates würdig sein, der sich rühmt, mit an der Spitze der sozialrechtlich besteingerichteten Staaten zu stehen.

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