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Im Zeichen des V

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Das Wort Psychologie ist seit Anfang des Jahrhunderts in aller Leute Munde. Oft wird ziemlich Verschiedenes darunter verstanden. Eine klare Definition ist um so schwieriger, als wir nicht einmal so recht sagen können, was die Psyche selbst ist. Am ehesten läßt sich der Begriff .noch negativ umschreiben: Psyche ist dann

einfach das Nicht-Physische. Aber manche geben ohne weiteres zu, sie f hätten gar keine eigentliche Vorstellung, „keine Idee“, was die Psyche überhaupt sei.

„Keine Idee“ — der beiläufig hingeworfene Alltagsausdruck trifft den Nagel auf den Kopf. Denn wenn wir keine Idee von etwas haben, so fehlt uns eben jede Vorstellung davon, im-

plizite' joclc bildliche Vorstellung; “das“ griechische idea heißt ursprünglich „Bild“, und erst wenn die idea vom Bildhaften abgelöst, abstrahiert wird, ergibt sich das, was wir jetzt „Idee“ nennen. Psyche ist für uns ein abstrakter Begriff geworden, war aber den Griechen anfangs eine lebendige idea; in hellenischer Mythologie wird sie, die Atem und Seele verkörpert, als geflügeltes junges Mädchen dargestellt.

Auch manchen früh getauften Heiden mag Psyche noch ein lebensvolles Wesen bedeutet haben. Ihre Gestalt will man in manchen Figuren auf den Grabmälern der ersten Konvertiten in den Katakomben südlich von Rom wiedererkennen. Ausdruck überirdischen Friedens und himmlischer Seligkeit, recken die eingemeißelten Gestalten ihre Arme in die Höhe. Damit erlauben sie aber noch eine andere Rückbeziehung, zu jüdischem Ursprung hin, akzeptabel auch zufolge der ihnen summarisch erteilten Bezeichnung: Oranten. Die mit himmelwärts gereckten Armen betenden 'uden gelten somit gleichfalls als Prototypen jener frühchristlichen Skulpturen.

Moderne ..Oranten“

Wie sonderbar, daß heutzutage unsere Blicke tagtäglich über Bilder von Menschen in solcher Haltung streifen — auf Anschlagsäulen und in Zeitungsblättern! Männer, Frauen, Kinder, einzeln, zu zweit, zu dritt, werfen da glückselig ihre Arme hoch in die Luft, so begeistert hat sie die unübertreffliche Qualität ihrer Anzüge, Schuhe, Schokoladen, Fernsehapparate. Es ist auf der ganzen Welt so: Die Geste, mit der der Mensch der größten Freude Ausdruck gibt, ist mit seiner M Gebetsgeste — dankende oder flehende : Hände, die zum Himmel weisen — identisch (Abb. l).

Dieselbe Geste sehen wir in den Zeitungen auf ungezählten Photographien: Tennis- und Fußballspieler heben seit Jahr und Tag nach gewonnenem Match ihre Arme und — viel interessanter - auch soundso viele Politiker. Minister und Präsidenten, die auf diese Weise die Menschen-

inenge begrüßen. Einer der ersten von diesen war Eisenhower. Ihm zumindest mag in dieser Haltung ein religiöses Gefühl gegenwärtig gewesen sein, dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten, der in Amt und Würden die christliche Taufe empfangen hat. Seine Geste hat Nachahmung gefunden bei einem europäischen General und

Staatsoberhaupt, de Gaulle (Abb. 6). Ihnen beiden aber ist schon vor langer Zeit ein anderer Führer und Heerführer seines Volkes beispielgebend vorausgegangen: „Josue tat, wie Moses gesprochen hatte, und stritt wider Amalek; Moses aber und Aaron und Hur stiegen auf die Spitze des Hügels. Und wenn Moses die Hände aufhob, siegte Israel; wo -er sie aber ein wenig sinken ließ, übermochte Amalek“ (Exodus XVII, 10, 11).

In Eisenhowers „Helloh-Salute“ sah man zum erstenmal „sozusagen eine Ausweitung von Churchills (Abb. 3) V-Zeichen“ („The Times“, 1. November 1952). Der Autor* dieses Artikels hatte bereits zehn Jahre früher den Zusammenhang zwischen dem mit zwei Fingern geformten „kleinen V“ Churchills und dem „großen V“ der zum Gebet erhobenen Arme erfaßt und in seiner 1944 erschienenen Schrift „V is the War Aim“ („V ist das Kriegsziel“) historisch belegt. Denn V hat mehrere lebendige Urformen. Die, die in unserer Zeit die größte Dynamik birgt, ist der homo orans.

Buchstaben sind Symbole

Übrigens ist V, selbst lange nachdem es von seinen prototypisch anschaulichen Formen weg zur simplen, nüchternen Zeichnung abstrahiert worden ist, noch kein Buchstabe, das heißt kein Lautzeichen, sondern nur Zeichen und Symbol, anscheinend in allen Kulturkreisen; ganz so wie Swastika und Kreuz. So finden wir es bei uns im ersten vorchristlichen Jahrtausend auf Urnen der Hallstatt-

kultur (Abb. 2). Daß Schriftzeichen im Grunde Symbole sind, erweist der englische Sprachgebrauch: Man nennt die Buchstaben auch Script Symbols.

Nun bedient sich die Reklame seit etwa fünf Jahren intensivst des Buchstabens und Zeichens V in vielerlei Varianten — und die Reklamefachleute verstehen ihr Metier: sie wissen, V „zieht“. Wohl darum werden nicht nur Skier und Scheren in spitzem Winkel mit aufwärts gerichteten Enden, sondern auch Schirme, Schuhe, Flaschen, Strümpfe und Krawatten in der gleichen Formation dem Käufer angepriesen. Das V als Anfangsbuchstabe des Namens einer Firma oder Marke wird ebenfalls herausgestellt, wie in den Autotypen VolksWagen, Vauxhall, Victor, Velox, Versailles, oder auch als Mittelbuchstabe, wie in den Medikamenten TraVelin, MinVin, TestoViron. Warum erscheint aber das V groß auf den Motorhauben von Chrysler, General Motors und Pontil-lac? Warum vertreiben die Apotheken in England und Frankreich Penizillin-V, Sulpenin-V, Distaquine-V, Achro-mycin-V und Litinees Vee? Vielleicht

geben uns gerade die vielen Heil(!)-mittel, die sich des V bedienen, die gesuchte Antwort; denn offenkundig sind es die beiden Arme des V, einstmals menschliche Arme, die, zur Höhe strebend, eben dort Heil und Heilung suchen.

Das Streben aufwärts

„Luther sagte einmal, daß Gott hinter den wechselnden Personen und Akteuren der Geschichte ,rumort'; noch ist dieses Rumoren kaum intellektuell formuliert oder konkret-

politisch faßbar“ („Die Furche, 24. Februar 1962). Vielleicht läßt es sich psychologisch erfassen und dabei zusammenfassen mit der verwandten Haltung von Psyche und Oranten, nämlich in einem Ausspruch Alfred Adlers: „Das Streben von unten nach oben ist ein Trieb, der für immer anhält.“

Der Mensch hat das Fliegen gemeistert, fliegt wohl bald zu den Sternen. Doch entspricht dem technischen Wunder keine seelische Ele-vation. Quälend macht die Diskrepanz sich fühlbar, denn die Seele ist vorhanden und „rumort“, auch wenn sie derzeit gern negiert wird. Auf die untragbare psychische Spannung folgt schließlich die physische Reaktion: Arme und Hände stoßen himmelwärts.

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