6652759-1959_11_08.jpg
Digital In Arbeit

Innichen

Werbung
Werbung
Werbung

STADT AN DER GRENZE von Südtirol und Stadt des heiligen Candidus, uralte Stätte im Pustertal: Innichen — oder wie es die Italiener nennen: San Candido. Ihre Gründung führt auf den Bayernherzog Tassilo zurück, der hier im Jahre 769 ein Kloster gründete. So alt ist sie schon.

Die Statue des heiligen Candidus hat in der aus dem 11. Jahrhundert stammenden alten Stiftskirche von Innichen, dem bedeutendsten romanischen Bau Tirols, seine Heimstatt gefunden. Die Kirche birgt auch ein als wundertätig verehrtes Kruzifix, wertvolle Mosaiken und ein Fresko von Pacher. In der später zugebauten Vorhalle baumelt auf einem Stück Schnur ein riesiges Knochenstück von der Spitzbogendecke herab, angeblich eine Rippe des Riesen Haunold. Gehen wir der Sache nicht auf den Grund und lassen wir es bei dieser frommen Legende: Haunold, der Riese der Dolomiten, der hier in Bildern und Sagen immer wiederkehrt, hat der Legende nach, Stein um Stein für den Bau der Kirche auf seinen breiten Schultern von den Bergen herabgeschleppt. Wer die mächtigen Steinquadern aus Porphyr sieht, diesem roten Stein der Dolomiten, wird leicht verstehen, daß so ein Stück selbst einen Riesen zerdrücken konnte. Dies soll dem Riesen Haunold widerfahren sein, als er einmal mit seiner Gigantenlast ausglitt und hinfiel.

Noch lebt sein Name. Der zerklüftete Felsenkoloß, der dicht neben der Stadt in das Blau des Himmels hineinwuchtet, trägt seinen Namen und bildet das mächtige Tor zum Urgebirge der Dolomiten. Bei Innichen trennen keine maßvollen Vorberge das Pustertal von den bleichen Wänden. Jäh aus der Erde hervorbrechend, stehen sie als steinerne Wächter vor dieser Stadt. Majestätisch seine Felsenkrone tragend, strebt neben dem Haunold das steinerne Massiv der Dreischusterspitze empor und lugt über Türme-, und Dächer hinweg in das Straßengewinkel der Stadt.

AUSSER POLIZEI, Gendarmen, Grenzwächtern und sehr viel anderem Militär sieht man zuweilen auch Zivilisten und Feriengäste. In den Sommermonaten schwirren die Sprachen durcheinander, daß es eine Freude ist. Die Italiener hört man mühelos heraus. Wie auf den Mund geschlagen kommen sich dann die Südtiroler Bauern vor, wenn sie sonntags die Messe in Innichen besuchen Sie kommen von allen Seiten herbei, aus dem Sextental, vom Toblacher Feld und das Pustertal herauf. Aber sie müssen früh auf den Beinen sein: nur in der ersten Frühmesse gibt es eine deutschsprachige Predigt.

ES WAR SONNTAG. Mit dem Zug aus Lienz kommend, glaubten wir bei der Einfahrt in Innichen mitten in die Empfangsfeierlichkeiten für einen Minister geraten zu sein. Ein Aufgebot von diskret bewaffneten Uniformierten, mit leuchtend roten Hosenborten und frisch geweißten Handschuhen, drängte und schob sich an den Zug heran. Aufgeregtes Hin-und-Her- Gelaufe. Der ganze Rummel aber galt nur einer gewissenhaften Paßkontrolle und einer hochnotpeinlichen Zollrevision. Um einen Minister macht man hier nicht halb so viele Geschichten. Aber das merkten wir erst später.

DAS KLEINE, SCHINDELGEDECKTE GRABKIRCHLEIN in Innichen scheint allmählich in den Erdboden zu versinken. Es ist gesperrt und man muß sich erst den Schlüssel besorgen, wenn man die herrlichen Holzschnitzereien betrachten will, die es in seinem Innern birgt. Der deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich /III., besuchte während seines Aufenthaltes in Toblach im Jahre 1887 sehr oft den zierlichen Bau. Die Kirche diente als Vorbild für sein später in Potsdam errichtetes Mausoleum. Heute hat man nicht einmal die Mittel, um die nötigsten Instandhaltungsarbeiten durchführen zu lassen. Mehr Geld bringt man für Kasernenbauten auf. So klein Innichen auch ist, für zwei Kasernen fand sich Raum genug. Ein paar Kilometer weiter steht schon wieder die nächste.

Die Geschäftsaufschriften, Straßenbezeichnungen und Plakate sind meist zweisprachig. Aber man nimmt es hier nicht sehr genau: einmal fehlt die deutsche und dann wieder die italienische Aufschrift. In solchen Fällen besteht über die Volkszugehörigkeit des Ladenbesitzers oder Geschäftsinhabers kein Zweifel.

INNICHEN IST BERÜHMT wegen seines guten Trinkwassers. Das erfährt man meist abej nur aus dem Baedeker. Man wird vergeblich nach jemandem Ausschau halten, der wegen des guten Wassers nach Innichen kommt. Und dennoch weiß man hier einen guten Tropfen zu schätzen. Der aber ist dunkel und schwer und aus süßen Trauben. Beim „Uhrmacher” — wer ihn nicht kennt, kennt Innichen nicht — gibt es eine versteckte Hinterstube. Auf hölzernen Regalen drängen sich, wohlgefüllt mit köstlichen Weinen, schlanke und bauchige Flaschen dicht aneinander und aus vernickelten Hähnen rinnt pausenlos honiggelber oder blutdunkler Wein in die funkelnden Gläser. Uhrmacher und Weinschenk dazu … Es ist kein Kunststück, herauszufinden, daß das Verhältnis zwischen verkauften Zeitmessern und wohlversiegelten Korbflaschen ungefähr 1:1000 steht. Siservą!

Trotzdem: noch ein paar Worte über das Wasser. Innichen besitzt Schwefel-, Eisen- und Magnesiumquellen, die für Bade- und Trinkkuren angezapft werden. In Wildbad Innichen gibt es eine ärztlich geleitete Wasserheilanstalt. Daß sie zur Zeit nur wenig besucht ist, spricht beileibe nicht gegen die Güte und Heilkraft des Wassers, sicher aber für die Qualität des Weines, den Südtirol seinen Gästen bietet.

SÜDTIROL IST DAS LAND DER BLASMUSIK. Bei seinen 112 Gemeinden besitzt es 170 Blasmusikkapellen. Auch in Innichen fehlt eine solche nicht. Am Sonntag vormittag gibt es ein Platzkonzert. Die Trachtenkapelle ist dicht umdrängt. In den vordersten Reihen stehen die Italiener. Alpinisoldaten summen leise die Melodien mit: „Alte Kameraden” und „In Treue fest”. Später stellt sich heraus, daß es junge Südtiroler sind, die ihren Wehrdienst bei den Italienern ableisten müssen. Die meisten von ihnen spielen gleichfalls ein Instrument und gucken darum ihren Landsleuten scharf auf die Finger. Vielleicht können sie etwas lernen.

Seit eh und je war die Tiroler Landesverteidigung auf das Schützenwesen aufgebaut. Die einzelnen Schützenkompanien wurden von den „Schweglern”, Spielleuten mit Pfeifen und Trommeln, begleitet. Vom Militärdienst heimkehrende Schützen brachten im 18. Jahrhundert die weitaus klanggewaltigere „türkische Musik” in ihre Heimat mit. In den Jahren 1759 bis 1790 erfolgte die Umstellung der „Schwegler” zu Blasmusiken. Sie waren von nun an mit Trompeten, Hörnern, Oboen, Flöten und Fagotten ausgeJ stattet,.. Später .-kattten auch noch-•-Triangel, Becken und große Trommel hinzu. Unter der italienischen Herrschaft wurden die Schützenkompanien aufgelöst; ihre Musiken aber blieben als Trachtenkapellen bestehen.

„DER WEG IST NICHT WEIT IN DIE EWIGKEIT. Um fünf ging ich fort, um sechs war ich dort!” verkündet die Inschrift auf einem Kreuz. Karl Schönherr hat uns eine bunte Reihe solcher Marterlsprüche übermittelt. Jede Inschrift und jedes Täfelchen erzählt eine andere Geschichte:- Vom Baum erschlagen, von einer Lawine erfaßt, vom Steinschlag getroffen oder vom Pfad gestürzt und vom wilden Bergbach mit fortgerissen. Helden des Alltags neben Helden der Heimat. Zahllos sind die Kreuze und Namen auf den Kriegerfriedhöfen in und um der Stadt. Auf dem Gottesacker hinter der Stiftskirche wurden sie seit jeher nebeneinander begraben. Viele Inschriften weisen bis in das 12. Jahrhundert zurück. Auch die Opfer der Berge fehlen hier nicht.

INNICHEN LIEGT AM EINGANG des Hochpustertales, am Ende des Toblacher Feldes, unweit der Wasserscheide und dem Ursprung der Drau. Das Land, das es umgibt, ist echtes Bauernland, dem ein schollenverwurzeltes Volk entsprießt. Daran ändern auch die kleinen Städte nicht viel, die da und dort entstanden sind, wo das sonnige Tal sich weitet. Auch Innichen ist im Grunde eine Baüernsiedlung geblieben, ein aus wirtschaftlichen Interessen entstandenes Zentrum.

Die selbstherrlich und stolz auf einsamen Höhen thronenden Bauerngehöfte, jedes ein Königreich für sich, sind jeder beengenden Nachbarschaft abhold. Wortkargen Eremiten und Klausnern gleicht das Volk der Bauern, so lange der Werktag ihre ganze Kraft und Sorge heischt. Freimütig und aufgeschlossen treten sie uns in den Pausen entgegen, die ihnen die Arbeit und die Jahreszeit gönnt. Das Land hat die Menschen geformt und sie gelehrt, mutig und tapfer zu sein. Sie tragen das Herz nicht auf der Zunge, prüfen und wägen, ehe sie sich entscheiden. Dann aber ist ihr Ja und Nein endgültig und klar Ihr Glaube ist tief in ihnen verwurzelt, in der Erkenntnis, daß alles Leben und Gedeihen in Gottes Hand liegt. Sie von ihrem Glauben trennen zu wollen, hieße sie dazu zwingen, ihre Art zu ändern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung