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„ … jetzt redet Gott“

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Wintergewitter. Roman von Kurt Ihlenfeld. Eckart-Verlag, Witten und Berlin, 812 Seiten

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Wintergewitter. Roman von Kurt Ihlenfeld. Eckart-Verlag, Witten und Berlin, 812 Seiten

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Der erste Roman, mit dem Kurt Ihlenfeld, der langjährige Herausgeber des nun wieder erscheinenden „Eckart“ und Leiter des Eckart-Kreises, hervortritt, spielt an, einem Wintertag zu Anfang des Jahres 1945 in einem schlesischen Dorf. Zum erstenmal meldet sich der Donner der heranrückenden Front: unwahrscheinlich für die Menschen die trotz aller Verluste und Entbehrungen noch in ererbten Häusern, in einer vom Glauben an Dauerbarkeit getragenen Ordnung leben, Das Buch schildert nur diesen einen Tag, an dem es zur Gewißheit wird, daß das Gewitter Austreibung, Elend, völlige Ungewißheit bedeutet. Mit großer Kunst und Eindringlichkeit sind Überlieferung und Eigenart des schlesisch - preußischen Protestantismus geschildert: alles ist noch ganz da und ist doch schon nicht mehr; je weiter die Schilderung dringt, um so deutlicher treten die dunklen Linien des Zerfalls hervor, um so unabweislicher werden die Zeichen des Endes. Noch wenige Tage und dieses ganze enge und doch sinnvoll geschäftige Leben ist nicht mehr. Am Ende wird ein schon verlassenes Dorf gestaltet, mit dem das Geschick des Schauplatzes vorausgenommen ist: hier ist es unheimlich still, ein einsames Frauenwesen ist zurückgeblieben und verwahrt noch einmal die Türen; alles ist ausgeliefert, alles Gott anbefohlen. Denn — und das ist das Thema — jetzt redet Gott; sein Feuer schlägt durch; er fordert alle Habe zurück, und dem Menschen bleibt nichts als der Glaube, aber der Glaube des Menschen in der Not, des Menschen aus Fleisch und Blut. Leidenschaftlich wehrt sich ein Geistlicher in einem der großen, angesichts des Untergangs geführten Gespräche gegen die vergeistigte und verdünnte Religion, die in modernen Büchern und nun gar in der Predigt verkündet wird: „Für mich muß alles so handgreiflich, so brutal — entschuldigen Sie bitte —, so brutal wie möglich ausgedrückt sein.“ — Das ist das Unglück der Brüder im theologischen Seminar, daß sie „richtig versorgt“ aus- sehen, daß sie „nicht mehr im Tempel stehen, wo die Schwellen rauchen und die Engel schreien“.

In diesen Tempel führt die Dichtung. Sie hat es nicht nötig, die Greuel zu schildern, die sidi in wenigen Tagen ereignen werden; das Kommende ist schon gegenwärtig: keinen der vielen Menschen, die hier gestaltet sind, wird es an seinem Ort lassen; jeder wird in die Hände Gottes des Lebendigen fallen. Am weitesten vor an die Grenze dringt der junge Leutnant, ein Berliner Theologe, in dem der Dichter das Andenken des unvergeßlichen Stehmann erneuert hat; er erfährt die Tragik, unter zweifachem höchst ungleichem Befehl zu stehen. Gebietet ihm Christus, so handelt er ohne Waffe in wunderbarer Sicherheit; gebietet ihm der Staat, so gehorcht er, verletzten Gewissens, vertrauend auf seinen Glauben, hoffend, daß der Gehorsam noch mehr als das Opfer ist, und am Ende sich doch auf das Opfer berufend, das nun sein Geheimnis bleibt, unerreichbar den überlebenden. Denn „die Tragik des Menschen in einer widermenschlichen Zeit“ kann nicht mitgeteilt, sie kann nur bis zum Zerbrechen erfahren werden.

So wird, was geschlossen war, aufgebrochen; das Dorf wird Symbol, Handlung und Erfahrung weisen ins Unbegrenzte: es wird so bleiben, wir wissen nicht, auf wie lange Zeit. Immer wieder bemühen wir uns, Gottes Zeichen abzuschwächen, versuchen wir uns einzureden, daß es „nur“ ein Gewitter ist, das uns beunruhigt, nicht die Sprache des Herrn, der ein Ende macht mit unserem bisherigen Leben, weil er ein ganz neues von uns will: den Glauben derer, die gerettet wurden „wie durch Feuer“. Das Buch beschränkt sich auf einen Tag, aber rückgreifend und vorgreifend gestaltet es den Gehalt des Jahrhunderts. Es ist ein Blick von der Grenzscheide nach beiden Seiten; alles ist sichtbar, alles verfallen, und das Unerhörte ist nah wie kaum je zuvor. Dieser Eindruck stellt sich im Leser mit wachsender Stärke her; am stärksten dann, wenn er das Buch geschlossen hat und zurückblickend das Ganze sich zu eigen macht; nur einer ungewöhnlichen künstlerischen Kraft, die ihrer Mittel sicher ist —- und einem Mann, der sich vorbehaltlos der Zeit gestellt hat, konnte diese Wirkung erreichbar sein.

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