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Knistern im Gebälk

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„Politische und religiöse Orthodoxie auf der Anklagebank. Mit einem Plädoyer von Friedrich Heer“ — mit diesem Satz auf dem Umschlag will ler deutsche Verlag entweder die Quintessenzen des Buches ausdrücken oder den Inhalt werbewirksam anpreisen., Aber er wird dieser vielschichtigen Autobiographie und Selbstdarstellung durchaus nicht gerecht!

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„Politische und religiöse Orthodoxie auf der Anklagebank. Mit einem Plädoyer von Friedrich Heer“ — mit diesem Satz auf dem Umschlag will ler deutsche Verlag entweder die Quintessenzen des Buches ausdrücken oder den Inhalt werbewirksam anpreisen., Aber er wird dieser vielschichtigen Autobiographie und Selbstdarstellung durchaus nicht gerecht!

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Denn Abraham Feinberg ist ein viel zu differenzierter Geist, um das Heil — das religiöse wie das soziale — einfach von einer allgemeinen Liberalisierung zu erwarten. Er selbst schreibt: „Offenheit für die Überzeugungen anderer Leute ist nur ein Waffenstillstand zwischen dem kleinsten gemeinsamen Nenner harmloser Verallgemeinerungen, denen ich beipflichten kann, und den weitschweifigen Odysseen des Verstandes, die ich zu vermeiden gehalten bin. Das liberale Credo erklärt: ,Es gibt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet' Ein liberaler Kleriker schwankt zwischen dem schützenden Hafen einer Tradition, an der er zweifelt, und dem kartographisch nicht erfaßten Ozean eines Nihilismus,, vor dem er zurückschaudert“ (S. 325). Solche Einsicht hindert den Autor allerdings nicht, an anderer Stelle folgenden Vorschlag zu unterbreiten: „Grelles Hadern um das besondere Verhältnis der Juden und dann der Christen zu Gott ist das geisterhafte Knistern im Gebälk eines baufälligen und ausgelebten Hauses, das abbruchreif ist. Ich würde die sich selbst hätschelnde Vorstellung von Israel dem erwählten Volk aufgeben, wenn ich hoffen könnte, daß das Christentum dem sanguinarischen Symbolismus des Kreuzes abschwören würde. Da die einzigartige Rolle des Christentums im göttlichen Plan aus der des Judentums erblühte, könnte ihre gemeinsame Verzichterkiärung durch jüdische Initiative garantiert werden.“

In Jesus sieht Feinberg den sanftmütigen, freundlichen Juden, der sich „im Kernstück sefaer Lehren, im Vaterunser, in der Bergpredigt mit ihren Gleichnissen... zu diesem Leben bekennt... zu guten Dingen, die darin gefunden werden sollen, und zu den Moralprtozdpien, die nötig sind, damit jeder sie erlangen kann. Über den Himmöl hat er sich nicht aufgeregt“. — Wirklich nicht? Sind Himmel und Hölle tatsächlich eine Zutat der Kirchen? Man lese daraufhin einmal aufmerksam das Neue Testament! Woher sonst wollen wir Kenntnis von Jesu Leben und Lehre haben? Feinibarg mißtraut allen Asketen. Er selbst hat schon als Kind die Speisegebote heimlich übertreten. Er schreibt: „Je länger ich über die Predigt nachdachte, um so sicherer zog ich den Schluß, daß Moralisieren Gemeinheit zeugen kann. Während meiner ganzen Zeit als Prediger hatte ich nie einen eifrigen Altardiener von absoluter Reinheit getroffen, der nicht essentiell falsch war und eine Bedrohung für anständige Leute... Extreme Tugend kann mehr Schaden anrichten als ein Laster, denn ihre Schraihkenloslgkeit wird nicht durch das Gewissen milde gestimmt“ (S. 165). Um seine These zu beweisen, stellt er an anderer Stelle dem asketischen Pius XII. den korpulenten, lebensfreudigen, welt-offertenen Johannes XXIII. gegenüber. Wer aber das ,Gelstliche Tagebuch' kennt, erblickt gerade in Johannes einen Gegenbeweis: er war durchaus nicht der Mann, dessen Devise hieß: Leben und leben lassen — gut gegen sich selbst und gegen andere —, sondern lebenslang erfolgreich um Tugend bemüht! Körperbau allein genügt nicht als Indiz.

Mit Recht weist Heer im Vorwort hin auf die vielen Parallelen, die sich ergeben zwischen der Haltung Feinbergs zu seiner Tradition und der vieler junger katholischer Kleriker zu der ihren. Der Sohn armer orthodoxer Einwanderer wird Reform-Rabbiner, der vor allem Ratgeber und Helfer der Menschen sein will. Er macht Karriere als einer der glänzendsten Prediger Amerikas. Plötzlich erkennt er sich als Gefangenen eines Systems, seines Terminkalenders, seiner gesellschaftlichen

Verpflichtungen, und kündigt — zum Kummer, aber mit dem Einverständnis seiner Mutter — seine Stellung. Im Jahre 1935, unter dem Eindruck der weltbedrohenden Entwicklung des Nationalsoaalismus, kehrt Feinberg in seinen alten Beruf zurück. „Die Menschheit braucht Glauben wie nie zuvor in unserer Zeit.“ Als Rabbiner hat er nun doch, inner-und außerhalb der Synagoge, einen besseren Standort, um diesen Glauben zu vermitteln. Die Stimme des Kämpfers gegen Krieg, Rassenhaß und Faschismus reicht von dort aus weiter...

Als Kämpfer gegen jede Diskriminierung des Manschen hat Feinberg sich von Jugend an gefühlt Der schönste Teil des Buches ist die Beschreibung des Lebens in der großen Familie, der ergreifendste die Schilderung des Angsttodes eines Jürgen Negers, der von einer Bubenrotte zum Spaß gesteinigt wird, als er aus dem Fluß steigen will; und die des Grunderlebnisses, des „Trauma seines Lebens“, da ein verlotterter Trunkenbold den Knaben anspeit und als Christuskiller beschimpft Wer einen Sündenbock sucht verwirkt die Rettung durch das Lamm Gottes!

Wenn Leben und Sterben Jesu kein ModeQlilall wäre für die Menschheit sondern nur ein Vorfall war in Palästina, dann dürften wir füglich auch den Juden allein die Beurteilung dieses ganzen Prozesses überlassen!

Es ist schwer, ein Buch zu besprechen, dem als Vorwort eine umfassende Besprechung beigegeben

wurde! Der Zweitrezensent wfcd unwillkürlich jene Aspekte herausarbeiten, die ihm die wichtigsten schieinen. Auch fordert so uneingeschränktes Lob die Kritik heraus; es muß gesagt werden, daß Feinbergs Sprache oft beinahe unverständlich ist Daran dürfte nicht der Übersetzer schuld sein, der ja die oft schiefen Bilder wähl wortgetreu übertragen hat.

Der Kampf um Gerechtigkeit den Feinberg immer geführt hat, ist seit 1945 auch ein erbitterter Kampf gegen das Untertauchen, die — ausdrückliche oder stillschweigende — Begnadigung von Kriegsverbrechern geworden. Schauderte ihn gar nicht beim Niederschreiben dieses Satzes: „Und wenn der Todesengel mich rufen kommt, dann, so hoffe ich, wird er krächzen, daß es in seinem Reiche Nazis und Faschisten gibt, um die man sich kümmern muß. Um so weniger Widerstrebend würde ich ihm dann folgen!“ (S. 304). Niemand von uns kann einem Juden das Recht streitig machen, so au empfinden: wir sind es, die ihn dahin gebracht haben! Durch unsere Bosheit unsere Trägheit unsere Feigheit, bestenfalls unsere hoch-wilHkomimene Unwissenheit. Dankbar atmen wir auf, daß das letzte Wort dieses Buches, trotz allem, Liebe ist. Gerade aus diesem Grund soll man an diesem Buch nicht vorübergehen.

Viele sollten es lesen; es konfrontiert uns nicht nur mit einem bedeutenden, originellen und doch in seiner Widersprüchlichkeit typischen Zeitgenossen — es konfrontiert uns vor allem mit uns selbst. Daher ist es ein unerfreuliches Buch Es könnte uns nützlich werden.

CHRISTUSKILLER I Trauma meines Lebens. Von Abraham L. F einher g. Verlag HerUg, 1969, 384 Seiten, DM 25.—.

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