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Kreuzweg der Einsamkeiten

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HELLE AUGEN — SCHWARZE HAUT. Roman. Von Christian Megret. Deutsch von Dr. Hermann Schreiber. Verlag Andreas Zettner, Würzburg. 592 Seiten. Preis 19.80 DM.

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HELLE AUGEN — SCHWARZE HAUT. Roman. Von Christian Megret. Deutsch von Dr. Hermann Schreiber. Verlag Andreas Zettner, Würzburg. 592 Seiten. Preis 19.80 DM.

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Mėgret ist mit seinem Roman „Helle Augen — schwarze Haut", der in der französischen Originalausgabe den viel schöneren und gemäßeren Titel „Carrefour des Solitudes“, also: „Kreuzweg der Einsamkeiten“, hat, ein Werk gelungen, das durch seine Fülle und Vielfalt überrascht, dessen Gestalten und Bilder den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in herzbeklemmende Anteilnahme versetzen. Ein unvergleichlicher Spiegel unserer dunklen Welt mit all ihren Gefährdungen des Individuums, ein Spiegel des Menschen unserer Zeit in seiner Verloren heit, Einsamkeit und Leere, bitteren und schmutzigen Erfahrungen ausgesetzt, auf der Suche nach dem Sinn eines Daseins, in dem das Böse triumphiert, die Güte und Menschlichkeit nicht viele Chancen haben. So ist die Situation zum mindesten für den rein irdisch orientierten Menschen, und diese Be-, Schränkung gilt für alle Gestalten Megrets. Wenn auch die beiden Zentralfiguren — das russische Bauernmädchen Kristiaschka und der amerikanische Neger Buddy — sich mit dieser trostlosen Perspektive nicht zufriedengeben wollen, auch sie .gehören zu jenen Wanderern durch die Nacht, für die Gort ' nicht mehr lebendige Wirklichkeit ist. So bleiben alle ihre Bemühungen auf den innerweltlichen Raum beschränkt. Ihr Ernst und ihre Unbeirrbarkeit- überlegen die Frage wohl, ob das nicht ein zeitgemäßer Weg zu- Gott sei? Von Buddy heißt es einmal:

„Die Lehre des Lebens war, daß man Zuschlägen mußte, ehe der andere zuschlägt. Heber das Faktum gab es ja keine Diskussion, aber mit dem Prinzip, das 'dieser Handlungsweise zugrunde lag, war Buddy nicht einverstanden. Er anerkannte die Gewalt nur so, wie man eben eine Ueberschwem- mung oder Feuersbrunst anerkennt, aber er konnte ihr nicht zustimmen. Er wußte, er selbst würde nie ein Schläger werden. Um so schlimmer für ihn. Und wenn man. alles in allem nahm, so gekörte er doch wohl zu der Sorte, die sich lieber unterdrücken ließ. . . Das Leben mochte tatsächlich so sein wie ein Hagel von Schlägen, aber wenn man gut aufpaßte, so konnte man doch vielleicht zwischen den Hagelkörnern durckschlüpfen. Es gab doch immer wieder Gelegenheiten, wo man einem anderen die Hand reichen konnte, statt ihm eine aufs Maul zu hauen . ..“

Obwohl die Haupthandlung des Buches von einer großartigen Einfachheit ist, läßt sie sich nur unvollkommen nachzeichnen. Die besondere Atmosphäre, auf die alles ankommt, kann nur die eigene Lektüre erschließen. Schon der Schauplatz des Geschehens ist von ungewöhnlicher Breite. Jeweils ein Kapitel spielt in Rußland, in dem wechselnden Milieu, in dem Kristiaschka lebt; das darauf folgende in Buddys, von mannigfachen Abenteuern bewegter Welt. Beiden bleibt nichts erspart: sie stehen mehr als einmal an Abgründen.' Aber, so tief der Sumpf um sie herum ist, selbst als Beteiligte fragwürdigster Handlungen, bleiben sie im Grunde unverdorben und im ganz ursprünglichen Sinn „rein", weil sie Liebende sind inmitten der Lieblosigkeit ihrer Umwelt. Später werden Buddy und Kristiaschka durch den Krieg nach Europa verschlagen. um einander in einem kleinen normannischen Dorf zu begegnen. Man muß das wörtlich nehmen. Alle vorhergegangenen Ereignisse laufen auf diese Begegnung zu, die notwendig ist, .um ihnen endlich jene Gewißheit zu schenken, daß ihr Leben nicht umsonst war, Jahrzehnte Einsamkeit, Not, Qual und Wirrnis, und nur fünf Tage vollkommene Gemeinsamkeit in der Liebe, die alles zu einem erfüllten Dasein zusammenschmelzen!

„Die Zeit war stehengeblieben, die Stunden verrannen nicht mehr und es gab keine Sekunden, die einander ins Nichts hinabdrängten. Die Gegenwart war erstarrt und hatte die Zukunft aufgehoben, das Leben hielt sich in der Schwebe und entfaltete sich in einem Augenblick der Freude, der nicht enden wollte.“

In die Haupthandlung eingeflochten sind zahlreiche Episoden, erbarmungslos brutale Geschehnisse neben unendlich zarten, makabre Schilderungen neben humorvollen und ironischen — Mėgret beherrscht alle Register! Und diese Vielfalt der Gestalten: Stephan Alexandrowitsch und Tante Eudo- xia, in denen der Geist des alten Rußlands lebendig ist, neben jungen Kommunisten und Partisanen; die Gangster einer New-Yorker Jugendbande, Dirnen aus Passion und solche, die von sich sagen, daß sie für ihr Handwerk nicht geschaffen seien — ein buntes Stück Welt, plastisch und lebendig gezeichnet. Und über allem jene Melancholie, der Menschen verfallen, die sich nicht in Gottes Hand wissen.

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