Laura Freudenthaler: "Bis sich etwas weit genug verschoben hat, um zu fallen"

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Erinnerungsstücke einer Frauenfigur: Über Laura Freudenthalers neuen Roman "Geistergeschichte".

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Erinnerungsstücke einer Frauenfigur: Über Laura Freudenthalers neuen Roman "Geistergeschichte".

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Schon bei Laura Freudenthalers Erzähldebüt "Der Schädel von Madeleine" 2014 ließen Sprache wie Erzählverfahren aufhorchen. In der titelgebenden Geschichte entern gackernde Hühner Madeleines Sprachzentrum und deregulieren die Orientierung zwischen ihrem deutschen und französischen Wortschatz. Drei Jahre später folgte mit "Die Königin schweigt" der erste Roman, der das Leben von Großmutter Fanny in chronologisch geordneten Episoden Revue passieren lässt. Die einzelnen Abschnitte sind selten länger als zwei Seiten und erzählen aus Fannys Perspektive all das, was die Frauen dieser Generation zu verschweigen gelernt haben: Familiengeheimnisse, Kriegsgeschichten, Gewalterfahrungen und die ganz normalen Folgen der allgemeinen Sprach-und Lieblosigkeit.

Zerrüttung und Entfremdung

Auch der neue Roman "Geistergeschichte" verwebt episodisch aufgefächerte Erinnerungsstücke einer Frauenfigur, die hier allerdings unsystematisch in die Gegenwartshandlung eingeflochten sind. Die Klavierlehrerin Anne findet sich an der Schwelle zum Alter in einem Leben wieder, das nicht das ihre geworden scheint. Für Durcheinander wie in Madeleines Kopf sorgt hier die "Geisterstimme" der jungen Geliebten aus dem Smartphone von Annes Lebenspartner Thomas. Und auch Annes Gefühl der Fremdheit hat mit kultureller Entwurzelung zu tun. Die kann selbst eine scheinbar unproblematische Migrationsbewegung innerhalb der EU-Kernzone - mit dem Wechsel von einer Fensterladenzu einer Vorhangkultur - hervorrufen. Anne ist Französin und leidet bis heute darunter, dass in ihrer neuen Heimat Österreich mit den Unsicherheiten über Schreibweise und Betonung ihres Vornamens die Herkunftsfrage stets sofort mit im Raum steht.

Am Beginn ihrer Beziehungsgeschichte sorgten - wie schon im Fall Madeleines - die kleinen sympathischen Irritationen ihrer sprachlichen Fehlleistungen und die Unterschiede in ihrer beider Gewohnheiten für reichlich Gesprächsstoff und gegenseitige Anziehung. Für Thomas, der in Wien ein großes Kulturfestival leitet, verstärkte wohl auch Annes Berufsbild "Konzertpianistin" den Exotik-Bonus, den ihr reizender Akzent tagtäglich am Köcheln hielt.

Der Autorin gelingt eine Art Prüfbericht über die spezifischen Alterungserfahrungen ihrer Elterngeneration, die sich einst als ewig jung definierte und nun vor der Zeit von den gesellschaftlichen wie technologischen Entwicklungen unsanft abgehängt wird.

Nun, zwei Jahrzehnte später, ist das alles ausgeblasst. Anne ist eine frustrierte Klavierlehrerin am Konservatorium geworden und der Charme des Fremden hat sich wohl abgeschliffen. Bei ihr hinterließ die Assimilation ein vages Unbehagen und ungerechte Vorwürfe. Etwa dass Thomas ihr "seinen" Dialekt beigebracht, sie also sprachlich eingefärbt habe. Und zumindest übertrieben ist auch ihre Empörung darüber, dass er manches, das er sich von ihr angeeignet hat -wie die Expertise in Sachen Rotwein -, nun als sein Urteil weitergibt. Wenn Paare viele Jahre hindurch Teile ihrer Gewohnheiten und Vorlieben angleichen, verliert sich die Bedeutung von Provenienzfragen. Der Kern des Problems ist freilich, dass Thomas nun dieses Paarwissen -möglicherweise - an seine Geliebte weitergibt. Denn Anne ergeht es gerade wie so vielen Wechseljährigen: Ihre Partner wollen es noch einmal wissen und suchen sich junge Teenager-Geliebte.

Es ist also kein Wunder, dass für Anne das aktuelle Sabbatical-Jahr völlig aus dem Ruder läuft. Statt Lehrbuchschreiben, Klavierspielen und das Leben genießen -die totale Auflösung. Die Zerrüttung zeigt sich zunächst an ihren Händen, den zentralen Werkzeugen der Pianistin. Sie verweigern allmählich den Gehorsam, wollen sich nicht mehr an das lange Eingeübte erinnern. Die Hände als Mittelpunkt ihrer Karrierehoffnung beginnen ein Eigenleben -so wie Thomas, der einstige emotionale Mittelpunkt ihres Lebens. Der Paar-Alltag hat sich auf ein Set an Rücksichtnahmen reduziert, damit die unterschiedlichen Lebensrhythmen einander nicht in die Quere kommen. Dadurch werden Berührungspunkte und Begegnungsmöglichkeiten immer seltener - und auch, weil Thomas viel Zeit bei seiner jugendlichen Geliebten verbringen muss. Er wickelt das Verhältnis diskret ab, aber doch so, dass Anne die Spuren seines Parallellebens finden kann - als intensivierten SMS-Verkehr, als Restaurantbeleg oder als Rechnung über den Kauf einer guten Schaumstoffmatratze für die Wohnung der jungen Frau -die, anders als Thomas, wohl noch keine Rückenprobleme kennt.

Existenzielle Erschütterungen

Dabei ist und bleibt alles Faktische ungesichert, denn die einzige Informantin ist Anne, und nach und nach scheinen nicht nur ihre Hände unzuverlässig zu werden. Sie hört und sieht die Geliebte in der leeren Wohnung, in jeder Ecke kann das Mädchen plötzlich auftauchen - oder ist dieses "Huschen aus den Augenwinkeln" nur eine Folge altersbedingter Gesichtsfeldtrübungen? Und die rhythmischen Klopfgeräusche, mit denen das Mädchen die Räume erfüllt, kommen die doch nur aus den Heizkörpern? Dass ein Zahnputzbecher plötzlich herunterfällt, erklärt Annes lebenspraktische Freundin, die einzige Gegenstimme im Roman, mit "Erschütterungen, die man nicht wahrnimmt, bis sich etwas weit genug verschoben hat, um zu fallen." Das klingt plausibel und harmlos, erhält im Kontext von Annes Denkschleifen aber leicht eine existenzielle Dimension.

Das Unbehagen über die - imaginierte - Präsenz der Rivalin treibt Anne aus der Tristesse ihrer Wohnung hinaus zu ausgedehnten Spaziergängen, vorwiegend in städtische Randlagen, in denen sich leicht eine Art exterritoriales Gefühl einstellt. Thomas bleibt nach Männerart problemlösungsorientiert. Als die Wohnung immer mehr verkommt, bietet er Anne mit sanfter Stimme an, wenn sie die Hausarbeit überfordere, könne er das gut verstehen und wäre gerne bereit, eine Putzfrau zu engagieren -und zu finanzieren. Er scheint wirklich großartig zu verdienen, auch wenn ihn die ewigen Unsicherheiten über Förderzusagen für das Folgejahr stets belasten. Solche Sorgen nicht ernst genommen zu haben, scheint Annes Anteil an der Entfremdung zu sein. Wann hat sie eigentlich aufgehört, sich für seine Arbeit zu interessieren und ihn zu seinen Freunden und seinen Veranstaltungen zu begleiten?"Das ist seine Arbeit was soll ich dort", meint Anne einem Kollegen gegenüber, schließlich ist das Argument vom jeweils "eigenen Leben" ein sozial akzeptiertes Erklärungsmodell für beziehungstechnische Distanznahmen.

Ob das Haus am See -das in Annes Erinnerungen an glücklichere Phasen ihres Zusammenlebens immer wieder auftaucht -noch eine gemeinsame Zukunft verheißt, bleibt offen. Hat sich Anne vielleicht so manches Detail von Thomas' Affäre nur lebhaft vorgestellt? Dinge und Beobachtungen überinterpretiert? Andererseits scheinen die Verständigungsbarrieren zwischen den beiden - nicht nur bei Annes einstiger Fehlgeburt -schon prinzipieller Natur.

Jenseits der konkreten Fallgeschichte ist Laura Freudenthalers Roman auch eine Analyse über die Funktionsweisen von Erinnerungsarbeit - die von einer spezifischen Körperhaltung genauso ausgehen kann wie von einer Wortspur. Zugleich gelingt der 1984 in Salzburg geborenen Autorin eine Art Prüfbericht über die spezifischen Alterungserfahrungen ihrer Elterngeneration, die sich einst als ewig jung definierte und nun vor der Zeit von den gesellschaftlichen wie technologischen Entwicklungen unsanft abgehängt wird. "Ich war doch einmal eine Person, die sich zurechtfindet", sagt Anne hörbar irritiert, nachdem sie beim Self-Check-in kläglich gescheitert ist.

Buch

Geistergeschichte

Von Laura Freudenthalcer
Roman
Dorschl 2019
gebunden, 168 Seiten, € 20

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