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Literatur als Gegenwelt

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ZWISCHEN LEBEN UND TOD von Nathalie Sarraute. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 237 Seiten. DM 12.—.

Immer weniger Menschen lesen, trotz der Bücherflut, die alljährlich den Markt überschwemmt. Diese Entwicklung, deren Ursache die wachsende Bedeutung der Massenmedien ist, verschärft sich besonders dort, wo das Buch nicht der Vermitt lung von Information dient, sei es nun auf dem Gebiet der Unterhaltung oder Forschung, als Trivialroman oder Sachbuch, sondern sein Eigenleben führt, als authentisches Zeichen der schöpferischen Begegnung eines Individuums mit der Sprache, als sprachliches Kunstwerk also sofern diese Bezeichnung noch relevant ist.

Gerade hier nämlich bei dem Problem Sprache scheint die technologische Zivilisation an ihrem wundesten Punkt zu stehen, da in ihr offensichtlich Leute, die sich Dichter nennen nur noch Unverständliches von sich geben, aus ihrer eigenen Muttersprache eine Fremdsprache machen müssen und so quasi gezwungen sind, entweder überhaupt zu schweigen oder sich mit anderen Dichtem und Kritikern zu unterhalten, die von Berufs wegen alles verstehen müssen, also auch die moderne Literatur. Dieses Abgleiten in einen totalen Hermetismus mag soziologische Ursachen haben, vollendet aber im eigentlichen nur eine

Entwicklung, die sich schon bei den großen Romanschriftstellern des 19. Jahrhunderts abzeichnet und das Abrücken vom Scheinbaren Vordergründigen, vom Gemeinplatz impliziert. Diese Ansätze sind in der Moderne thematisiert einerseits in der Beschäftigung mit der Sprache als Material, anderseits in dem Versuch, neue Erfahrungen zu sammeln und diese unabhängig von vorgebildeten Denkschemata weiterzugeben.

Nathalie Sarraute gehört zusammen mit Robbe Grillet und Michel Butor zu den Wegbereitern der französischen Moderne. Für ihren Roman „Die goldenen Früchte“, der 1964 erschien, erhielt sie den internationalen Literaturpreis. Der nun erschienene Roman „Zwischen Leben und Tod“ setzt das Thema der goldenen Früchte fort, radikalisiert es in der Herausstellung der immer größer werdenden Distanz des schöpferischen Menschen von seiner Umwelt. Die Welt des „Argwohns“ der Nathalie Sarraute wird zur Hölle des totalen Subjektivismus, der Einsamkeit des Ich, das die Oberfläche des Wirklichen nur tastend berührt. Die fluktuierenden Bewegungen des Bewußtseins, die Regungen der

Psyche, Impulse, die ein Wort auslöst, undeutliche Umrisse, fllmhaft eingeblendet, geben Auskunft über das Ich, in diesem Fall den Dichter. Wie in dem Roman „Die goldenen Früchte“ bestreitet die Gegenwelt das literarische Paris, der kunstbeflissene Bourgeois, die gute Gesellschaft, allerdings entschärft, wesenlos. Hauptsächlich sind es einzelne Worte, die zur Erfahrung werden, Wortspiele, Verknüpfungen, Assoziationen. Harmlosigkeiten, wie die Frage einer unbeteiligten Person, werden zum auslösenden Moment der Entfremdung. Während diese Entfremdung bei Musil aber noch als ein antagonistisches Abrücken vom mit Haßliebe ausgemalten Gesellschaftsbild sich auswirkt, wird sie bei der Sarraute zum Recht auf bedingungslosen Solipsismus, zur Grundvoraussetzung aller Erfahrungen.

Dieses Recht auf Privatheit, das sich die Dichter heute nehmen, mag als ein schlechtes oder gutes Symptom aufgefaßt werden. Es bedeutet nur vielleicht, daß man in Hinkunft zwei Sprachen lernen müssen wird, eine, die weniger eine Sprache als vielmehr eine Zivilisationskrankheiit ist, und eine, die versucht, das Wirkliche zu reflektieren und ln den Griff zu bekommen, was heute wahrsehein- ich schwerer ist, als jemals zuvor.

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