6788847-1970_26_10.jpg
Digital In Arbeit

„Malinconia“

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt vieles, ganz verschiedenes Leid, sehr gewichtiges Leid. Und so schmerzlich es im „akutem“ Zustand gewesen sein mag, nach Dezennien hat es sich irgendwie entschärft, objektiviert. Wer kennt das nicht? In jeder dritten Tragödie oder Komödie wird der rabiate Liebeskummer junger Leute dargestellt, denen die Alten umsonst mit ihrer Erfahrung klarzumachen versuchen, wie kurzlebig er ist.

Aber auch andere Schicksalsfügungen, zum Beispiel die, die mit dem Krieg zusammenhängen: heimatlos werden, flüchten müssen, grausige Kampferlebnisse, Tod und Trennung vom Nächsten und Liebsten, sie alle „vergilben“ auch einmal. Und vieler Menschen Gedächtnis zehrt von diesen Erinnerungen, und sie setzten der Dramatik in ihrem Leben im Erzählen immer wieder ein Denkmal. Aber es gibt eine Tragik, der ist meines Wissens noch kein Denkmal gesetzt worden. Keine Dichtung hat sich ihrer angenommen. Denn sie ist so schwer greifbar, sie hat keine Struktur. Und Niemand, außer denen, die von ihr betroffen sind, wird das verstehen, was ich über sie nur „ausstammeln“ kann. Man weiß, daß es eine Melancholie gibt. Und bis an sie, die noch die bekannteste, die gängigste Art der Depression ist, reicht auch noch die Dichtung. Irgendwie mit Lenau,Mondschein, Verzicht und Schilf assoziiert, auch aus Schuberts „Winterreise“ kennt man sie. Aber die in diesen künstlerischen Niederschlägen schwingende Trauer ist sozusagen nur die erhabene Schwester, die veredelte Abart jener seelischen Niedergeschlagenheit, die kaum Mitleid erweckt, weil sie sich auf keine eklatante Ursache zu beziehen scheint. Und doch lebt der von der Gemütskrankheit Betroffene in einem Inferno. Seit ich es kennengelernt habe, fürchte ich die Vorhölle nicht mehr. Denn was kann schlimmer sein, als in sich zurückgestülpt, ohne jede Beziehung zu irgend etwas „draußen“ zu leben? Und in die eigene Leere zu starren? Eine blutende Wunde hat ihre Dramatik, ihren introvertierten Reiz. Aber die Depression überzieht alles und jedes mit Mehltau, macht es diffus, erstarrt, unlebendig. Der Depressive tastet seinen Bewußtseinsraum wie einen lichtlosen Schacht ab und spürt, daß es kein Entrinnen gibt. Sinnentleert iumd hoffnungslos liegt die innere und äußere Welt um ihn her. Es ist nur eine Vermutung — und ich habe mit keinem Arzt darüber gesprochen. Aber ich glaube, daß die erbarmungslose Form dieser Krankheit in der Großstadt urständet. Denn es gibt in der ganzen Natur kein adäquates Bild dafür...

Es gibt vom Blitz gefällte Bäume, es gibt Geröll, versengte Äcker, verseuchte Gegenden, Gift und Tod. Aber das hat alles einen Ablauf, das hat Prägung und ein Widerbild in der unverletzten Schöpfung. Aber das, was darzustellen wäre, zu dem kann ich die Symbole nur aus dem Bereich des zu Beton Erstarrtem holen. Wenn überhaupt eine Szenerie erstellt werden sollte, so wäre es etwa die kahle Trostlosigkeit von Feuermauern, das diffuse Gekritzel auf den Wänden eines Abtritts, Zeitungsfetzen, die ein föhniger Wind vor sich hertreibt, schmierige, geölte Wirtshausböden oder ein Autofried-hof.Passanten auf der Straße, im Kino oder in der Tramway, Ungläubig starrt man all die Menschen an, die so selbstverständlich ihren Betätigungen nachgehen, die einbezogen sind in den Kreislauf, in die Blutbahn des Lebens, aus der man sich allein ausgestoßen fühlt. Kein Rest von Selbstachtung und Würde bleibt einem und die Hoffnung ist erstorben.

Man überlebt es. Tausende Selbstmörder wachen in den Kliniken wieder auf. Erst verzweifelt, dann langsam gebessert, langsam geheilt, kommen sie aus der Anstalt wieder heraus.

So lange ich lebe, gehört diesen Kranken mein ganzes Mitgefühl, empfinde ich solidarisch mit ihrem begreiflichen Versagen.

Und ich glaube. Ich glaube, daß Gott sie ans Herz zieht und sie einmal in die unaussprechlichste Freude führen wird.

Denn die Vorhölle ist ja nichts anderes als die Gottferne. Und die haben sie hinter sich. — Ich habe es erfahren: Im Dunkeln tasten, heißt mit dem Lichte schwanger gehn.

„Und aus seinen Finsternissen tritt der Herr soweit er kann, und die Fäden, die zerrissen knüpft er alle wieder an.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung