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Mehr als ein Historikerstreit

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Die sowjetische Geschichtszeitschrift „Woprossy Istorii“ liefert einen bemerkenswerten Beitrag zum chinesisch-sowjetischen Konflikt. Die Zeitschrift untersucht in einem umfangreichen Aufsatz den Stand der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft in der chinesischen Volksrepublik .und kommt dabei zu dem Schluß, daß nioht nur die Politik der chinesischen Kommunisten, sondern auch die historische Konzeption der chinesischen Gelehrten eine Abweichung von den Lehren des Marxismus-Leninismus darstelle.

Die Zahl der konkreten Vorwürfe, welche die „Woprossy Istorii“ gegen ihre chinesischen Kollegen erheben, ist beträchtlich. So zitiert die Zeitschrift einige Äußerungen des Professors an der Fudan-Universität in Shanghai, Tschou Gu-tsoheng. Dieser prominente chinesische Gelehrte soll jüngst behauptet haben, „daß alle Lehrbücher der Weltgeschichte, sowohl die fortschrittlichen als auch die nichtfortschrittliohen, bis jetzt eurozentrisch gewesen waren und daß die Zeit gekommen ist, die eurozentrische Weltgeschichte abzulegen und ein neues System der Weltgeschichte zu schaffen“.

Die Sowjets behaupten nun, daß die Chinesen nichts anderes im Sinn hätten, als den Furozentrismus durch einen „Asiazentrismus“ zu ersetzen. Sie erinnern dabei an die japanischen Historiker, welche seinerzeit die Theorie von „Großostasien“ begründet hätten. In ihrem Kampf gegen Peking gehen die Russen jetzt schon so weit, sich als Verteidiger der europäischen Zivilisation und Tradition zu fühlen. So eohreiben die „Woprossy Istorii“: „In den Bestrebungen, die Bedeutung des Beitrages der Völker Europas für die Schatzkammer der Weltkultur des Mittelalters zu vermindern, stellt Tschou Gu-tscheng, ,der Finsternis in Europa' die Blüte der Kultur und des Staatswesens der Länder des Ostens entgegen. Was soll diese nihilistische Einstellung gegenüber der Geschichte der bereits recht hochentwickelten feudalen Staaten Europas, wie Frankreich, England, Deutschland, Italien, Spanien, des Kiewer Rußland nach dem 10. Jahrhundert?“

Besonders entsetzt ist man in Moskau darüber, daß der gleiche chinesische Historiker das mongolische Reich und seine Eroberungen idealisiert und verteidigt. „Tschou Gu-tscheng verwies mit keinem Wort auf das schreckliche Unglück, da die mongolischen Eroberungen über die Welt gebracht haben.“

Der Professor der Philosophischen Fakultät in Peking, Tschu Tschien-tschih, soll erklärt haben, daß China eine der Quellen des Atheismus, Materialismus und Rationalismus der französischen Enzyklopädisten gewesen sei. Leibnitz, Kant, Fichte, Hegel und andere deutsche Philosophen hätten ihre Anregungen aus China erhalten.

Die größte Entdeckung freilich ist, wenn wir den „Woprossy Istorii“ glauben dürfen, die Entdeckung Amerikas durch die Chinesen. Die Pekinger Zeitung „Pei-Tschmg Wan-Pao“ soll im September 1961 in einer Artikelserie behauptet haben, daß der chinesische buddhistische Mönch Hui Sehen tausend Jahre vor Kolumbus Amerika entdeckt hat. Der Autor dieser Aufsatzreihe soll erklärt haben: „Schon im fünften Jahrhundert; unserer Erde haben die Chinesen und Asiaten eine enge Verbindung mit den Völkern und Ländern Amerikas hergestellt. Eben deshalb hat die Freundschaft zwischen den Chinesen und den Völkern verschiedener Länder Amerikas eine tief wurzelnde Tradition. Auf diese Weise ist es klar, daß nicht Kolumbus der erste Entdepker des amerikanischen Kontinents gewesen ist.“

Hier ist das Hauptargument der sowjetischen Seite, daß die Chinesen hochmütig, größenwahnsinnig und nationalistisch seien. Man erinnert sich freilich, daß zu Lebzeiten Stalins aus der Sowjetunion und in den Spalten der gleichen „Woprossy Istorii“ ähnlich groteske Versuche einer Umwertung aller Werte zu finden waren.

Der Aufsatz in den „Woprossy Istorii“ ist ein Symptom dafür, daß der chinesisch-sowjetische Konflikt längst die Bereiche der marxistischleninistischen Ideologie hinter sieh gelassen und heute bereits die gesamte Tradition, das Weltbild, die nationalen Vorstellungen und das Reiehsgefühl dieser beiden großen Nachbarreiche ergriffen hat.

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