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Politische Tragödie

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Ein erregender, großer Theaterabend im Volkstheater. Leon E p p inszeniert Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. Man kann diese „Tragikomödie“ kabarettistisch, existentialistisch bringen und auffassen. So ist sie etwa in München gespielt worden. Das Volkstheater hat einen anderen Weg gewählt, und dafür allein schulden wir ihm bereits Dank. Diese „Faice“ hat nämlich, wenn sie groß gesehen und durch große Schauspieler präsentiert wird, Maße der antiken Tragödie. Nehmen wir es vorweg: Dieses Stück würde verdienen, mit einführenden Worten der Schuljugend der obersten Klassen und allen Erwachsenen, die noch erziehungswillig sind, dargeboten zu werden. Ein einzigartiger Anschauungsunterricht in Demokratie, in Politik, beide verstanden als Spielregeln der mitmenschlichen Beziehungen.

Die äußere Handlung ist „banal“, „einfach“ wie alle großen Themenvorwürfe. In ein verarmtes, in Krieg und Inflationszeit heruntergekommenes deutsches Städtchen kommt eine „alte Dame“ zu Besuch. Als Komödie beginnt es: die biedermännischen Honoratioren warten auf diese sagenhaft reiche, alte Frau, die vor 45 Jahren als junges Mädchen die Stadt verließ. „Alles klar“: man wird sie „rupfen“, wird sie anpumpen, wird sich von ihr die Stadt sanieren lassen. Alfred III, ihr Jugendfreund, ein etwas verlotterter kleiner Krämer, wird dabei eine nicht unwichtige Rolle spielen; er wird sie an ihre Liebe vor 45 Jahren erinnern, und das Spiel ist gewonnen. „Alles klar.“ Die alte Dame kommt, fällt III um den Hals, verspricht der Stadt eine Milliarde (sie ist Erbin eines levantinischen Magnaten vom Range eines Zaharoff oder Onassis) Eine klei“e Perl?“'““?7: Die Stadt soll ihr dafür „die Gerechtigkeit“ verkaufen: das Leben Iiis, der sie, die Siebzehnjährige, betrog und durch falsche Zeugen ihre Verurteilung erreichte; bedeckt mit Schimpf und Schande verließ das junge Mädel damals hochschwanger die Stadt Döllen. — Mit dem Brustton der Ueberzeugung lehnen Bürgermeister und Stadt dieses Angebot ab: „Wo denken Sie hin, in unserem christlichen Abendlande...?“ Die Dame: „Warten wir ab.“ — Und nun entfaltet sich die Tragödie. Die kleine Stadt entpuppt sich als ein Hexenkessel: alle wollen sie III schützen, alle wollen ihn ermorden. Dürrenmatt gelingt es, die zunehmende Verschwörung, der alle, selbst Frau und Kinder des begehrten Sühneopfers, verfallen, in erschütternden Szenen glaubhaft zu machen. Kraftlos, hilflos, versagt selbst der Pastor. Der Humanist, der Direktor des Gymnasiums, leistet sich, wie so viele Intellektuelle, Künc'r Po-fessoren in Kriegs- und Notzeit, eine Fleißaufgabet' rhetorisch-pathetisch verlogen, fordert er das Opfer des einzelnen für sein Vaterland, für die.Vaterstadt. — Was aber tut der einzelne? III, das Opfer, der Sündenbock? Nach einem vergeblichen Fluchtversuch geht in ihm eine tiefgehende Wandlung vor, er nimmt das Opfer an: er, der Sünder vor 45 Jahren, geht nun in den Tod, den die Bürgergemeinde über ihn verhängt. Die alte Dame bezahlt die Milliarde, reist mit dem Toten im Sarg ab. — Die Stadt Düllen aber versinkt im Rausch des Wirtschaftswunders; in Sekt, Frack und Phrasen.

Wir haben noch keine Darstellung unserer mitteleuropäischen Gegenwart auf der Bühne gesehen, die dermaßen verdichtet, wie hier, das Drama unserer „Gesellschaft“ aufzeigt: brutalstes Streben aller (fast aller!), sich durchzusetzen um jeden Preis, materiell zu „arrivieren“; dazu die Ohnmacht der alten Mächte. Das Gewissen und der einzelne werden rücksichtslos zerbrochen, gilt es, einen mächtigen Happen „Glück“, Wohlstand zu ergattern.

Die Polis, die „Gesellschaft“, die politische Gemeinschaft, Staat, Vaterland enthüllen sich hier als Raubgenossenschaften, als magna latrocinia, als riesige Gangs, Verbrechensgemeinschafte n :. so, wie sie Augustin einst ersehen hat in der größten Wendezeit Europas vor der unsrigen — Wer ist die alte Dame? Sie ist eine leibhaftige Frau, die ihre verlorene Liebe sucht, und gleichzeitig ein antiker Schicksalsdämon, von der Art der Sphinx, die der Stadt Theben enthüllt, daß diese „heilige Stadt“ (alle Staaten und Großverbände halten sich für „heilig“, für unantastbar, sakrosankt!) vom Aussatz (der Sünde und Schuld) befallen ist. Die große Schauspielerin Dorothea Neff (es ist eine Schande, daß für diese einzigartige Begabung — nach dem Jode der Maria Eis! — so wenig Verwendung gefunden wird) gestaltet diese Frau und diesen Dämon, der das Nichts, das Böse in den Menschen enthüllt, selbst jenseits ihrer Geschäfte steht, in unvergeßlicher Wucht. Otto Woegerer ist ihr Partner; die Wandlung vom eitlen, ichbesessenen Kleinkrämer zum „großen Sünder“, zum König Oedipus, der für das sündige Vaterland stirbt, ergreift ihn, vom Scheitel bis zur Sohle. Welch eine Kraft! — Nun müßte das ganze sorgfältig betreute Ensemble genannt werden. Die Besucher mögen es im Programmheft, vor allem aber auf der Bühne besehen. — Das Premierenpublikum dankte ergriffen. Nun aber nochmals zum Anfang zurück: Es ist eine Aufgabe unserer Erzieher und Selbsterziehungswilligen, zunächst hier in Wien und Umgebung, möglichst vielen Mit-Menschen dieses Stück und das. was dahintersteht, vorzuführen.

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