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Südtirol und Wien

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Lotnar, der vielseitige und vielgewandte, beherrscht ausgezeichnet die gar nicht ungefährliche Kunst, das Geschichtliche uhd dokumentarisch Belegte mit freier Erfindung zu verbinden, also das historisch Feststehende durch Gestalten dichterischer Herkunft dem Freunde romanhafter Literatur nahezubringen.

Während seiner Emigrationszeit hat Lothar in den USA den Südtiroler Roman geschrieben, den er nun mit neuer Einbe-gleitung von Wien aus den Lesern unserer Sprache übergibt. Das Buch enthält eine Fülle urkundlichen Materials, so eine mehrere Jahrhunderte umspannende Aufzählung alter Südtiroler Geschlechter, Darstellungen der Südtiroler Leistungen in Kultur und Kunst, dann den Text des verhängnisvollen Berliner Umsiedlungsabkommens von 1939 und vieles andere mehr. Die Dialoge ergeben mit der bei Lothar gewohnten Schärfe und Klarheit wahre Höhepunkte des Verstandesmäßigen und der Wärme des Herzens. Eine ureingesessene Bozener Familie, deren Schicksal sich mit Figuren aus den USA verknüpft, wird auf brutale Art nach — Pilsen umgesiedelt. Damit entsteht allerdings ein tiefer Einschnitt, eine Bruchstelle in der ansonsten hervorragenden künstlerischen Linienführung. Der zweite Teil des Buches spielt in Böhmen und hat nur durch eine Anzahl hier wiederkehrender Gestalten lose Verbindung mit dem Grundthema, so daß der Untertitel „Roman des Südtiroler Schicksals“ an Bedeutung einbüßt. Das eine Exempel der nach Pilsen verschlagenen Bozener Familie bildet, auch gerade aus der Gegenwart gesehen, eine nicht bezeichnende Episode. Sie behält ihre ephemere Geltung trotz der aufrüttelnden Worte aus dem Testament des uralten Bozeners, mit denen er seinem Enkel noch übers Grab hinaus zuruft: „Ich verlange von dir, daß

du nicht rastest, bevor unser Südtirol wieder das ist, was es immer war: deutsch in der Sprache, christlich im Glauben, süd-tirolisch und nichts als südtirolisch in den Bräuchen. Dafür kämpfe!“

Man könnte auch Lothars „Kleine Freundin“ — der Titel liebäugelt mit Mißverständnissen — beinahe einen historischen Roman nennen. Es ist ein Ausschnitt aus der Geschichte des Großbürgertums im Wien der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Aber das Wesentliche dieses bereits verfilmten entzückenden Romans liegt bei der grandiosen Idee, die Welt der Erwachsenen nur und ausschließlich durch die Augen eines zwölfjährigen Kindes zu sehen. Das Ärgste, wogegen die Kleine auf ihre unreife und doch kluge Art ankämpft, besteht in der Gefahr, daß die Ehe der Eltern zerbrechen könnte. Neben dieser für die Halbwüchsige entscheidenden Frage erscheinen die Probleme des Wiener Judentums und der Gegensätze zwischen „Bourgeois und Prolet“, sogar das Hakenkreuz wird bereits sichtbar, und alles spiegelt sich in den Gedanken des Kindes. Wir erleben mit der Kleinen die wachsende Spannung und wir sind dem Dichter überaus dankbar, daß er das Heikelste voll Takt und Zartgefühl anfaßt.

In den beiden Büchern bilden die mit hoher Kunst des dramatischen Dialogs geführten Gerichtsszenen Glanzstücke der epischen Gestaltung. In beiden Büchern genießt der Leser die vollendete Meisterschaft der Zeichnung unterschiedlicher, gegensätzlicher Figuren, im Südtiroler Roman sind es die Südtiroler selbst, die Nationalsozialisten, die Amerikaner, die Tschechen, und gar in der „Kleinen Freundin“ hochnäsige Großstädter, emsige Juden, Urwiener, Eingewanderte, zwielichtige Gestalten.

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