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Mittelalterliche Dichtung in Südtirol

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In einem stattlichen Buche von 233 Seiten ) behandelt der Innsbrucker Germanist Eugen Thurnher den Anteil Südtirols an der mittelalterlichen Heldendichtung, am Minnesang und am alten Volksschauspiel. Wie schon der etwas unbestimmte Titel „Wort und Wesen in Südtirol” nicht sosehr auf eine klare und nüchterne Bezeichnung des Inhalts Wert legt, sondern eher auf eine hintergründige Beziehung der Dichtung zu tieferen Seins- schichtcn hindeuten möchte, so begnügt sich der Verfasser im ganzen Buche nicht mit einem quellenmäßig gesicherten Tatsachenbericht, sondern sucht seinen Stoff geistig zu vertiefen und die dichterischen Werke aus Landschaft, Volkstum und Geschichte und aus der geistigen Eigenart der einzelnen Dichter gründlicher zu erfassen und zu erklären. Das geht nun freilich nicht ohne gewagte und eigenwillige Konstruktionen ab, wie andererseits das Streben nach trefe- ter Erfassung und nach geistvoller Darstellung den Verfasser immer wieder zu jener wohl von der Exitentialphilosophie übernommenen dunklen und manirierten Ausdrucksweise drängt, die einem Teil derheutigen Generation so große Freude macht, dem Leser älterer Richtung jedoch weniger behagt. Was damit gemeint ist, möge ein Absatz illustrieren, der Walther von der Vogelweides Verhältnis zur Welt schildert:

„ …die mittelnde Brücke vom eigenen Ich zum Ganzen der Welt war in Walthers Erleben die Liebe. So trägt das persönliche Gefühl in das Reich der Gegenstände und schließt dem Ich im Zusammenleben mit diesem die Einheit der Welt auf. Di Gunst des Augenblicks, der Zufall der Begegnung, die Fügung äußerer Umstände, alles wurde durch die schaffende Gewalt des Gefühls zu gesetzhafter Ordnung gebunden und durch die holde Macht der Kunst in die Freiheit und das Wagnis der Verantwortung gestellt. Das eigene Gefühl Walthers trägt, erhält und verantwortet die Welt in ihrem Sosein, lichtet die dunklen Gründe der Zeitlichkeit zu heller Freud auf, indem es auch das Unerkannte in das unendliche Wagnis des eigenen Selbst aufnimmt. So empfängt das dichterische Ich eine neue Freiheit, die das schöpferische Wort aus den starren Bindungen an Raum und Zeit in die Bewegtheit des hohen Spiels der ursprungstiefen Kräfte des Gemüts erlöst, es aber zugleich durch das Wissen und die Verantwortung in einem neuen persönlichen Sinne mit der göttlichen Ordnung verbindet.” (S. 92.)

Man wird verstehen, daß ein Leser, dem scharfumrisscne Vorstellungen über alles gehen und der gerne etwas Festes in der Hand hielte, vor derartigen Aussagen etwas in Verlegenheit gerät.

Wenn man sich aber mit diesen Eigenheiten eanmal abgefunden Rat, vermittelt Thurnhers Buch einen höchst interessanten und überraschend reichen Stoff, denn Heldendichtung, Minnesang und Volksschauspiele haben in Südtirol eine ganz ungewöhnlich eifrige Pflege gefunden. Die Berliner Handschrift des Nibelungenliedes stammt aus einer Burg im Vintschgau, die Gudrun ist uns überhaupt nur in einer aus Bozen stammenden Handschrift, dem Ambraser Heldenbuch, erhalten, die ihrerseits wieder von einem Etschländer Verleger des XIII. Jahrhunderts abgeschrieben wurde. Ehe Wandgemälde in den Burgen behandelten mit Vorliebe Stoffe aus Heldendichtungen und Ritterromanen, wofür die Bilder in Runkelstein bei Bozen, Lichtenberg im Vintschgau und Corredo auf dem Nons- berg noch heute Zeugnis ablegen. Auch manche im Südtiroler Adel des XIII. und XIV. Jahrhunderts gebräuchliche Namen wie Parzifal, Gawein, Dietrich, Sigune usw. sprechen für die Beliebtheit der Heldendichtung, und Fasolt ist heute noch ein Südtiroler Schreibname. Außerdem war das Etschland auch die Heimat vieler Riesen- und Zwergensagen, die von der Spielmannsdichtung des XIII. Jahrhunderts mannigfach verarbeitet wurden. Manche dieser Spielmannsepen sind sogar in Südtirol entstanden. Insbesondere war der gotische Sagenkreis, der sich um die Gestalt Dietrichs von Bern gruppiert, an der Etsch äußerst volkstümlich, was Thumher mit in Südtirol angesiedelten Resten des Gotenvolkes in Zusammenhang bringt. Der eindrucksvollste Beitrag Südtirols zu diesem ganzen Komplex von Sagen und Heldenliedern ist aber die Gestalt des Zwergcn- königs Laurin (nach Thumher von Loki abzuleiten), der als Dietrichs Gegenspieler in seinem Rosengarten haust. Haben die Bajuwaren, die im VI. Jahrhundert sich in Südtirol ansässig machten, den Sagenkreis um Dietrich von den Goten übernommen, so spiegelt sich in den Riesen- und Zwergensagen symbolhaft ihr eigenes Erleben in der von ihnen neu eroberten wilden Gebirgs- welt, und die Seiten, auf denen der Verfasser diesen inneren Zusammenhang klarzulegen sucht, gehören zu den eindrucksvollsten seines ganzen Buches.

Nicht weniger bedeutend ist Südtirols Beitrag zum Minnesang. Zwar ist die Herkunft Walthers von der Vogelweide aus dem Eisacktal nicht so über jeden Zweifel erhaben wie Thurnher es darstellt, und auch über die Bedenken, die gegen Leutold von Säben, Rubin, Hawart, Walther von Gre- sten, gegen Herrn Neune und Freidank erhoben werden können, setzt sich der Verfasser ziemlich großzügig hinweg. Aber auf jeden Fall läßt sich für die tirolische Herkunft dieser Sänger wenigstens ebensoviel sagen wie gegen sie, andere Namen sind überhaupt unbestritten, und vor allem steht am Ende der ganzen Reihe wie eine monumentale Figur aus Marmor die Gestalt Oswalds von Wolkenstein. An ihm ist alles konkret und sozusagen mit den Händen greifbar, denn Oswald steht im vollen Licht zahlreicher Urkunden, und außerdem schildert er in den Gedichten sein ganzes Leben mit all seinen Abenteuern, mit all seinen Erfolgen und Enttäuschungen selber. So haben wir hier den sonst so seltenen Fall vor uns, daß ein mittelalterlicher Mensch, dessen äußeres Leben bis in seine Einzelheiten klar vor uns liegt, mit seinen Gedanken und Gefühlen selber dazu Stellung nimmt. Wie Oswalds ganzes Leben, so spiegelt sich audi seine Heimat in seinen Liedern und sowenig uns die Gedichte Walthers und der andern eben aufgezählten Minnesänger über ihre Herkunft verraten, so klar und greifbar steht bei Oswald das Eisacktal mit dem Schirm und der Seiser Alpe vor unseren Augen. So besitzt der Wolkcnsteiner nicht nur als eine der markantesten Charakterfiguren des späten Mittelalters, sondern auch als der erste Heimatdichter für das gesamte Gebiet der deutsdien Literatur eine nicht wohl zu überschätzende Bedeutung, und demgemäß widmet ihm auch Thurnher eine sehr eingehende Darstellung.

Oswalds Leben fällt in die Übergangszeit von der ritterlichen zur bürgerlichen Kultur, und in den Kämpfen zwischen seinen Standesgenossen und dem Landesfürsten Friedrich mit der leeren Tasche spielen auch schon die Tiroler Städte eine bedeutsame Rolle. Der einzige adelige Dichter, den wir als Oswalds Zeitgenossen kennen, Hans Vintler, ist kein Minnesänger mehr und hat in seinen „Pluemen der Tu- gent” uns ein langes Lehrgedicht hinterlassen. Dafür findet die Dichtkunst nun in den Städten reiche Pflege, und zwar rückt nun das Volkssdiauspiel in die erste Reihe vor. In Bozen war es das Georgsspiel mit dem Drachenkampf, das seit 1341 alljährlich mit der Fronleichnamsprozession verbunden wurde. Eine Handschrift des Augustinerchorherrenstifts Neustift von 1391 enthält drei geistliche Spiele, und besonders reich fließt die Überlieferung in Sterling, wo Virgil Rabe zwischen 1510 und 1539 nicht weniger als fünfundzwanzig Fastnachtsspiele und sieben kleinere geistliche Stücke abgeschrieben hat. Vor allem aber wurde in Südtirol das Passionsspiel mit besonderem Eifer gepflegt, und zwar werden hier außer Sterzing und Bozen auch Brixen, Klausen, Meran und sogar Cavalese und Trient als Spielorte erwähnt. Seine höchste Ausbildung fand das Spiel in Bozen, wo es 1514 auf sieben Tage ausgedehnt wurde. Das Tiroler Passionsspiel hat auch nördlich vom Brenner weite Verbreitung gefunden und auf das angrenzende Salzburg und Bayern einen starken Einfluß ausgeübt.

Auch das Südtiroler Volksschauspiel wird von Thumher ausführlidi behandelt, und zwar bemüht er sich seiner allgemeinen Methode gemäß vor allem um die geistes- gesdiichtlichen Zusammenhänge, zum Beispiel um die Herleitung der Spiele .aus heidnischem Mythos und christlichem Kult, bekanntlich ein Gebiet, wo subjektive Meinungen nie ganz auszuschalten sind.

Im ganzen hat Thurnher ein Thema gewählt, dessen Behandlung sich ehrlich lohnt, und das Bild, das sich dem Leser entrollt, wird durch seinen bunten Reichtum jeden Leser überraschen Vor allem aber verdient er Dank, daß er das vielgeprüfte Südtiroler Volk dem Herzen seiner Stammesgenossen von einer Seite aus näherbringt, die im allgemeinen wenig bekannt ist und die im Verein mit der landschaftlichen Schönheit und mit dem künstlerischen Reichtum die Bedeutung und die Eigenart Südtirols und seines Volkstums erst voll zur Geltung bringt.

1Wort und Wesen in Südtirol. Innsbruck, österreichische Verlagsanstalt 1947.

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