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Symbol einer Zwischenwelt

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Da Volkstheater hat ßidi an eine Neuaulführung der „Dreigro6cihen- oper von Bert Brecht und Kurt W e i 11 gewagt. Wie 6ehr die ein Wagnis ist, zeigt die Aufführung in mehr als einer Hinsicht. Die Wiener Atmosphäre von 1952 besitzt weder die geistigen noch die sozial-gesell- 6 haftlidien Hintergründe, die dieses Werk auf anderem Hintergründe zum aufwühlenden Erlebnis werden ließen. Die fe6te Basis der BetÜeroper des John Gay ist: ein calvinisdi- puritanisches England, das 6eine alte religiös- politische Ordnung zerschlagen hat und nun in vollem Aufstand gegen den „schönen Menschen und den „schönen Gottesdienst" des Baro des die alte Weltharmonie zerbrochen hat. Es bleibt: ein nackter, nach Verwesung riechender Mensch (Sir Petty, der erste Statistiker, berechnet den Wert de6 Engländers auf 8 Pfund), der in Lastern und verzweifelten Gebeten seinen struggle of life (lange vor Darwin) im Kampf aller gegen alle (lange vor Hobbes) auskämpft, buchstäblich bis zum letzten Atemzug. über ihm thront, nach dem Sturz der Könige und ihrer Bischöfe, in unendlicher

Ferne ein grausam harter Gott (das Ebenbild dieser Händler, Kaufleute, Handwerker), von dem der große Prediger Baxter sagt: „Gott weidet eich an den Qualen der Verdammten." — So weiden sich in etwa noch die aus cal- vinisch-pastoralėm Milieu stammenden Modernen Brecht und Weill an den Schicksalen ihrer Typen: die unerträgliche Härte der metaphysischen Spannung zwischen dem Herr-Gott und dem in Sündenschuld verendenden Mensch-Armen wird bei ihnen zur ebenso harten Kluft zwischen „Reich" und „Arm", „gutem Bürger“ und „elendem" Verbrecher. Nur eine in Verzweiflungs6tünnen einbrechende Gnade (wir finden sie wieder bei Graham Greene) und Liebe wider alle Hoffnung kann hier vielleicht Erlösung spenden. „Der reitende Bote des Königs" — die Gnade in dieser Welt der Haie, Mörder und Heuchler — kommt aber selten, zu selten. Kleine Diebe hängt man, große steigen zur Macht und Herrlichkeit der Weltherrschaft auf.

Der letzte Song der „Bettleroper" aber stimmt mit seinem Wort („Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr / in Bälde erfriert es schon von 6elb6t, denn es ist kalt. Bedenkt das Dunkel und die große Kälte / in diesem Tale, das vom Jammer 6 hallt.') einen ganz großen Ton an, der zum erstenmal in der spanischen Mystik aufklang, bei der kleinen Therese neu aufsteigt und zu den wenigen in die Zukunft, in eine offene Welt weisenden Tönen gehört, die unserer Zeit gegeben sind.

Diese große Grundkonzeption des D r a jn a s ist aber nun bei Brecht und Weill bereits ein gekleidet in eine Sensibilität und Mentalität, die vorauesetzt: das hektisch-nervöse, überwache Leben der „sündigen“ Weltstadt nach dem ersten Weltkrieg, jene Mischung von schlechtem Gewissen, Sidi-Bessern-Wollen und Nicht-können, die das Berliner Wirken Carl Sonnenscheins, das Prag Kafkas und das Wien Karl Krau6' ermöglicht hat. (Denken wir heute noch darüber nach, daß alle diese drei großen Prediger auf dem dickfälligen Pflaster unserer heutigen Herzen einfach keine Existenzmöglichkeit mehr hätten?) Wir bemerkten es bereits anläßlich einer Aufführung des S p a- niers Casona in Wien: die Verschwommenheiten, die physischen und metaphysischen Charakterlosigkeiten unseres Lebens — Wien, Mitteleuropa 1952 — gestatten kaum die „rechte" Aufführung von Schauspielen, die eine Dialektik, eine Unerbittlichkeit voraus- 6etzen, die sich heute weder in unserem Leben, Denken noch Handeln finden.

Was al6o im Volkstheater herauskam, ißt der manchmal geradezu rührertde Versuch, mit den fatalen Möglichkeiten unserer Situation Kunst zr betreiben. Es gelang Anni Maier (das Beste de6 Ganzen: ihr Song im Bordell!) als Spelunkenjenny und Dorothea Neff als Frau Peadvum etwas von dem vernehmen zu lassen, wa6 an gequältem Aufschrei, flammendem Protest, großartiger Rhetorik einer innerweltlichen dialektischen Theologie in der .Dreigroschenoper' wie Dynamit lagert. — Da6 andere blieb: ein ziemlich lockeres, von der Regie unbetreutes Gefüge von Szenerien, in denen 6ich Wiener Schauspieler mit mehr und weniger Glück au6 der Affäre ziehen, die ihnen nicht liegt, — Das Publiktun, bei dem nur zum geringen Teil ein Verstehen der geistigen und politischen Situation des Gesamtwerke6 vorausgesetzt werden kann, blickt fasziniert, verwirrt, von den Melodien betäubt und von den Worten nicht getroffen, auf dieses Spiel. Trotz allem: ein beachtenswertes Wagnis, dieses große vielgeschiditige Werk, das bereits eine Symbolgestalt geworden ist für eine ganze Zeit (die zwischen Kriegen der alten Welt und jenen der neuen Welt de 20. Jahrhunderts), wieder einmal den Wienern vorzustellen.

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