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Unbehagen — sonst nichts

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HERR G. A. IN X. Roman von Tlbor D e r y. Im S.-Fischer-Verlar. Frankfurt am Main. 471 Seiten. DM 28.-.

Dem neuen Roman von Tifoor Dery geht der Ruf von Mißverstänidnissen voraus. Das Buch ist in der Tat so zwielichtig und zwisohenschichtig wie bisher noch keines von den vielen Werken des großen Erzählers. Es liest sich so, als hätte man einen mit viel Charme und großer Liebenswürdigkeit aufgarnierten Franz Kafka vor sich. Dery hat die Kunst, im gepflegtesten Konversationsstil die befremdlichsten Dinge zu erzählen, zum Prinzip dieses Romans erhoben. Es bleibt bis auf die letzte Seite unklar, welchen Grad von Emst der Autor seinem Werk beimißt. Und man dürfte nicht überrascht sein, wenn man dereinst erfährt, daß der Roman eine jener Farcen war, mit denen Genies zuweilen ihr Publikum auf falsche Fährten lenken.

Die Rahmenhandlung ist so sparsam wie konventionell. Einem Jugendfreund — dem G. A. — wird ein umfangreiches Manuskript unterstellt, welches der Autor nach Jahren des Aufbewahrens und Bedenkens nicht wunschgemäß vernichtet, sondern veröffentlicht. G. A. erzählt auf diesen Seiten seine Eindrücke von der seltsamen Stadt X, einem von unserer Zivilisation befruchteten, aber ihr entrückten Gemeinwesen. Man kennt diese anonymen Modelle aus Werfeis „Stern der Ungeborenen“ oder neuerdings aus dem ebenfalls bei S. Fischer erschienenen Roman „Fernwest“ des Petru Dimitriu. Solche Städte dienen ihren Erfindern meistens zur Veransohaulichung des Verhaltens einer utopischen Gesellschaft. Die Effekte werden scharf pointiert. Die Satire legitimiert sich mit Spitzen. Nicht so bei Tibor Dery. Der „Reisebericht“ ist im freundlichen Plauderton gehalten. Keine Schärfe, keine Drohung, keine Düsternis! X ist eine Welt größtmöglicher Toleranz. Die Reichen genießen wenig Ansehen. Man duckt und demütigt sich gerne. Und alles ist über alle Maßen verdreckt und verschlampt. Die Gespräche werden au vagen Vermutungen und Andeutungen einer allgemeinen TmrMphilosopihie. Nichts ist fest oder gar genau. Die Leute sind scheinbar unsterblich. Aber manchmal wird jemand ermordet, ohne daß das einen Zeugen aufregt. Andere wieder „vergehen“ unauffällig oder nehmen an einem der zeitweise veranstalteten „Ausflüge“ teil. Die ganze Beschreibung ist so vage und inkonsequent wie nur möglich. Ein Beispiel: „Diejenigen, die an einem Ende der Stadt leben, könnten glauben, daß sie wächst. Am jenseitigen Ende ist man der Ansicht, daß sie verfällt. Dann wieder ist es umgekehrt. Diese Un-zuverlässigkeit der Erfahrung lehrt uns Bescheidenheit und Taktgefühl.“ So groß wie die Lethargie und Indolenz der Bewohner von X ist ihre unterwürfige Höflichkeit. Man begegnet einander mit größter Schonung des überbewerteten Gefühlslebens. Nur ganz wenige archaische Typen sind vorübergehend zu härteren Äußerungen fähig.

Allmählich ergreift einen vor dieser lauwarmen Sensibilität der Ekel. Vor allem die dargestellte Liebesbeziehung zu Elisabeth, der jede seelische oder körperliche Totalität mangelt, ist geradezu abscheulich. G. A., der schließlich im Zuge seiner Vorträge über das „Ausland“ von einem kuriosen Gerichtshof bedroht wird, sieht sich trotz Vorbereitung und Verabredung von seiner Geliebten verlassen und tritt allein die Rückreise in seine Heimat an.

Wen und was wollte Tibor Dery mit diesem Roman glossieren? Das kommunistische Paradies? Den langweiligen westlichen Wohlstand? Die primitiven Jenseitsvorsteilumgen der Christen? Die abendländische Kultur? Oder ganz allgemein den Fortschritt? Oder den Pazifismus? Die geübte Gesellschaftskritik ist völlig agnostisch. „Herr G. A. in X“ ist der literarische Ausdruck eines Unbehagens. Sonst nichts.

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